Das Heim

Mit schwerem Herzen schleppte sich Eva an einem Septembermorgen auf staubiger Landstraße dahin. Ihr Körper neigte sich unter der Last des schweren Koffers, den sie trug und der all ihre Habseligkeiten in sich barg. Obwohl der Koffer nur wenige Sachen enthielt, empfand sie wegen ihres körperlichen Befindens sein Gewicht doch als eine Last. Ein paar Schritte abseits des Weges stellte sie ihn unter einen großen Baum, nahm ihren Hut ab, verbarg ihr Gesicht in beide Hände und schluchzte laut.

„O Mama, Mama, wärest du nur hier! Ich brauche dich so sehr! Es gibt niemand, zu dem ich gehen könnte, niemand, der mich versteht!“ Eine ganze Zeitlang saß sie da und schluchzte. Dann hob sie den Kopf und ließ ihre Augen auf einem Haus ruhen, das oben auf der Spitze eines Hügels stand, etwa eine halbe Meile von ihr entfernt. Die prächtige Septembersonne blendete fast das Auge. Deutlich sah sie die große, rote Scheune. Die Weidenbäume am Rande des Baches, der am Fuß des Hügels und dann quer über die Wiese seinen Lauf nahm, winkten ihr, vom Winde bewegt, zum Abschied zu. Der Obstgarten am Hügelabhang prangte jetzt in seinem Reichtum an reifen, roten Früchten. Die Apfelbäume bogen sich unter ihrer Last. Und während Eva dort neben der Landstraße saß und zurückschaute, schien es, als werfe die Septembersonne ihre goldene Strahlen auf die Früchte, um die Pracht ihres rosigen Anstriches noch zu vergrößern und sie einzuladen, zurückzukehren.

„Mein Heim!“, sagte sie, während ihr wieder die hellen Tränen die Wangen herabliefen. „O Gott, das ist so schwer zu ertragen!“ Dort, an jenem Septembermorgen, kniete Eva sich im Schatten des Baumes nieder und schüttete ihr Herz vor Gott aus, bis sie wieder seine erquickende Nähe fühlte und die Gewissheit verspürte, dass alles recht werden würde. So erhob sie sich von ihren Knien, ihre Augen nach oben gerichtet, und sang mit zum Himmel erhobener Hand und fester, unerschütterlicher Stimme:

„Alles will ich, Herr, verlassen, Dir allein zu folgen nach.

Arm und bloß auf öden Straßen, Still wie du mein Kreuz ich trag.“

Dann hob sie ihren Koffer und wanderte weiter. Es war ihr, als leuchte die Sonne noch prächtiger, und ihre Last schien nicht so schwer. Ein Vöglein sang sein Liedchen vom Wipfel eines Baumes und dies ließ in ihrer Brust eine Saite anklingen. Auch sie sang, während sie sich weiter schleppte und ihr Heim und ihre Brüder verließ, vertrieben von einem grausamen Vater mit dem strengen Gebot, nie wieder zurückzukehren.

Evas Vater, Robert Grant, war nicht immer ein grausamer, barscher und liebloser Vater gewesen. Als junger Mann hatte er um die Liebe Lucy Davis geworben und sie gewonnen. Er war ein geachteter, ordentlicher und ruhiger junger Mann gewesen. Und als die beiden heirateten, hielten es alle für eine gute Heirat. Herr Grant war ein starker Mann von muskulösem Bau, der nahezu 100 kg wog. Lucy hingegen von kleiner Gestalt und einem Körpergewicht von etwas weniger als 50 kg. Aber wegen ihrer Charakterstärke und auch weil sie ein Waisenkind war, ein Heim und jemanden brauchte, der für sie sorgte, glaubten alle, dass es ein guter Bund sei. Denn Robert Grant war sicherlich stark genug, um für sie zu sorgen und eine Familie zu unterhalten.

Er bewies sich als ein guter Arbeiter und alles ging eine Zeitlang gut. Robert und Lucy erwarben ein kleines Grundstück. Beide waren an schwere Arbeit gewohnt, ihr Eigentum mehrte sich bald und das Leben nahm einen guten Anfang. Auf dem Haus lastete noch eine kleine Hypothek, die sie bemüht waren abzutragen. Ihr Haus war nur mit dem Allernötigsten ausgestattet. Sie sorgten sich nicht darum, sondern arbeiteten frisch darauf los und freuten sich schon auf die Zeit, wenn das kleine Haus und Grundstück völlig ihnen gehören würde und sie dann daran denken könnten, auch etwas von dem Überfluss des Lebens zu besitzen. Lucys Herz jubelte bei jeder Zahlung, die zur Abtragung der Hypothek geleistet wurde. O, wie sie sich befleißigte, ihr Eigentum in jeder Beziehung gut zu bewirtschaften! Und sie war glücklich dabei. 

Drei Jahre gingen vorüber und die Familie Dare zog in ihre Nachbarschaft – Menschen von rauem Schlag, ihren früheren Nachbarn sehr ungleich. Aber wie es auf dem Lande üblich ist, wurden Besuche gewechselt, und bei einer Gelegenheit kam ein Krüglein Branntwein bei der Familie Dare auf den Tisch und machte seine Runde. Robert und Lucy lehnten ab. Wie stolz war Lucy auf ihren Mann, als er an jenem Tag das Trinken verweigerte, indem er sagte, dass er in seinem Leben noch nie einen Tropfen Branntwein getrunken habe. Die Familie Dare wurde häufig besucht und oft ging Robert allein. Obwohl körperlich stark, war er nicht stark genug, dauernd der Versuchung zu widerstehen, und bald trank er auch ein wenig. Sein Vater war ein Trinker gewesen, und die Leidenschaft fasste bald festen Fuß. Lucy war froh, als die Familie Dare wegzog; denn sie dachte, dass Robert nun wieder wie früher sein werde. Aber nein, er suchte woanders zu trinken. Selten kehrte er in nüchternem Zustand aus der Stadt zurück. Oft wurden ihre geringen Ersparnisse für Branntwein ausgegeben. Die Hypothek wurde nicht weiter abgetragen. Bald war das kleine Grundstück verkauft und sie zogen von einem Ort zum andern.