Evas geistliches Erwachen

Der Frühling ging dahin. Des Sommers heiße Sonne stieg höher und höher und die Früchte des Feldes begangen zu reifen. Allem Anschein nach schenkte die Natur der Grant Familie in diesem Jahr einen größeren Reichtum, als es im vorhergehenden der Fall war. Die Pflege des Gartens mit all der Arbeit hatte Lucy Grant obgelegen. Doch sie wurde von den Zwillingen und auch dem älteren Knaben so gut unterstützt, dass Robert Grant bald merkte, wie gut er sich auf seine Kinder verlassen konnte. Alles, was die Mutter im Frühling pflanzte und säte, wurde von den Kindern gewissenhaft versorgt. Er brauchte die Arbeiten nur ein wenig zu beaufsichtigen. Die Kinder waren stolz auf ihre Arbeit und vergaßen auch nicht, die Blumen zu pflegen, die ihr Mütterlein so gern hatte. Deshalb brachte der Garten nicht nur viel Gutes für den Tisch, sondern auch eine wunderbare Farbenpracht zur Erquickung des Auges. Die Ranken der spanischen Wicken wurden sorgfältig an dem Gitterwerk angebunden, das Harry mit Stolz errichtet hatte. Kapuzinerkresse, Petunien und Stiefmütterchen blühten zusammen auf wohlgepflegtem Beet, und den frühen Herbstblumen, Astern und Chrysanthemen wurde auch große Sorgfalt gewidmet.

Herr Grant entging es nicht, wie viel Freude die Kinder daran hatten und er verbrachte manche Stunde mit ihnen im Garten. Dadurch lernte er seine Kinder schätzen wie nie zuvor. Den Blumengarten hatte er nicht weniger gern als den Gemüsegarten, und eben das schien die bessere Seite seiner Natur zu zeigen. Die zusammen verbrachten Stunden waren für sie alle eine Freude und ein Vergnügen. Da er nun niemanden hatte, auf den er seine eigene Verantwortlichkeit legen konnte, verbrachte er die Abende daheim bei den Kindern. Und als die Schankwirtschaft des kleines Dorfes schloss, wanderte sein Geld nicht mehr dorthin, und so gab es neue Kleider für die Mädchen, neue Anzüge für die Jungen und neue Schuhe für alle.

Liebe Nachbarn und Freunde ließen es sich nicht nehmen, den Mädchen Anleitungen zu geben und ihnen beizustehen, wenn es nötig war, und bald wurden fähige kleine Haushälterinnen aus ihnen. Wie geschäftig sie alle waren! Am Morgen galt es zunächst das Frühstück zu bereiten, dann zu melken, die Hühner zu füttern, die Morgenarbeiten im Haus zu verrichten und das Mittagessen zu kochen. Neva versuchte auf jede Weise, Eva zu schonen, wie ihre Mutter es tat. So verrichtete sie stets die schwereren Arbeiten und überließ das Leichtere Eva. Das Geschirrabwaschen, die Ordnung im Haus und das Ausbessern gehörte alles zu ihren Aufgaben. Das Stopfen der Socken und Strümpfe war ihr immer eine verhasste Arbeit und oft musste sie sich überwinden, um dieser Pflicht nachzukommen. Eines Tages eilte sie schnell darüber hinweg, ihres Vaters Socken fertigzustopfen, um zu den anderen Kinder in den Garten zu gehen. Die Arbeit war nicht sorgfältig gemacht. Und als sie die Socken beiseitelegte und eben die Schublade zustoßen wollte, fiel ihr Blick auf ein Kleidungsstück, das ihrer Mutter gehörte. Da hörte sie wieder die letzten Worte, die ihre Mutter zu ihr sagte: „Mama kann sich immer auf ihre kleine Eva verlassen.“ Sie fühlte einen Stachel in ihrem Herzen, Tränen kamen ihr in die Augen und mit schuldigem Gewissen nahm sie ihres Vaters Socken noch einmal vor und legte sie nicht eher beiseite, bis sie sauber und ordentlich gestopft waren. „Ja, Mama, du sollst dich immer auf deine kleine Eva verlassen können“, sagte sie. „Und ich will so handeln, dass auch andere empfinden, sie können sich auf mich verlassen.“ Dann kniete sie sich neben ihren Stuhl und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Dort fand sie Neva einige Zeit später schluchzend vor. Sie schluchzte, wie nur jemand schluchzen konnte, dessen Herz sich nach einer liebenden Stimme sehnt, die der Tod zum Schweigen brachte. Keiner wusste etwas von dem Kampf, den Eva durchgefochten und gewonnen hatte, außer ihr und Gott. Aber sie hatte in früher Jugend einen großen Sieg erkämpft, der ihr in späteren Jahren half, eine Überwinderin zu sein.

Der Sommer schritt voran und Herr Grant hatte zum letzten Mal den Acker gepflügt. Nun war es ihm möglich, sich ein paar freie Tage zu gönnen. Eines Morgens, als sie beim Frühstück saßen, sagte er zu den Mädchen, sie könnten für ein paar Tage zu ihrer Tante nach St. Elmo fahren, wenn ein Nachbar ihre Kuh und Hühner versorgte. Und er würde dann mit den Jungen im nördlichen Teil des Staates einen Verwandten besuchen, den er einige Jahre nicht mehr gesehen hatte, und der ihn dringend eingeladen habe. Die Nachbarn sorgten gern für die Kuh; denn es traf sich, dass ihre eigene Kuh gerade keine Milch gab. So fuhr Herr Grant am Freitagmorgen mit den Kindern in die Stadt, ließ das Gespann und die Mädchen bei der Tante und bestieg mit den beiden Knaben den Zug, um für einige Tage den geplanten Besuch zu machen.

Die Tante wohnte in der Nähe einer Familie namens Rohdes, die zwei Töchter hatte, Lucie und Anna. Lucie war im gleichen Alter wie die Grant-Zwillinge und Anna zwei Jahre älter. Da Eva und Neva oft ihre Tante besuchten, hatten sie mit ihnen Bekanntschaft gemacht, die bald in warme Freundschaft ausreifte. Als nun die Rohdes-Mädchen hörten, die Grant-Zwillinge seien wieder da, kamen sie herüber, sie zu besuchen. Sie luden sie ein, mit ihnen in eine Zeltversammlung zu gehen, die gerade stattfand. Vor Freude erregt erzählten sie ihnen, dass sie schon dort gewesen seien und sich beide bekehrt hätten. Das war für Eva eine seltsame Geschichte. Aber sie lauschte, als sie ihr von der großen Menge berichteten, die die Versammlung besuchte, und dass viele Leute in diesen Gottesdiensten erlöst worden seien. Die Tante erlaubte den Zwillingen, bei der Rohdes-Familie zu Abend zu essen und dann mit ihnen den Gottesdienst zu besuchen, der von Frau Massey, einer Evangelistin von auswärts, geleitet wurde. Das Zelt war vollgestopft, und als Frau Massey aufstand, um zu der gespannt lauschenden Menge zu reden, überkam Eva etwas Eigenartiges. Sie saß wie gebannt da und lauschte der Kunde von der Liebe, dem Mitleid und der Gnade Gottes, wie auch von seinem Gericht und seinem Zorn. Während sie so zuhörte, fasste sie den Entschluss in ihrem Herzen: „Wenn ich achtzehn Jahre alt bin, will ich eine wirkliche Christin werden und will versuchen, eine Frau zu werden, wie Frau Massey es ist.“ Ein Einladungslied wurde gesungen, und als Eva zu Neva herüberschaute, sah sie Tränen ihre Wangen herablaufen, und ihr Körper bebte, als fröre sie. Eine Anzahl Leute gingen nach vorn und ließen mit sich beten. Und als Lucie Rohdes ihre Hand auf Nevas Schulter legte und sagte: „Geh, Neva, du wirst es nie bereuen“, sah Eva auch bald ihre Schwester an der Bußbank ihre Knie beugen. Wenige Augenblicke danach stand sie auf und kehrte mit einem Ausdruck der Freude und des Friedens auf ihrem Gesicht zu ihrem Platz zurück. Aber kein Überreden half, Eva zu bewegen, nach vorne zu gehen. Sie hatte entschieden: „Wenn ich achtzehn Jahre bin, dann will ich eine wirkliche Christin werden.“

Die Versammlungen kamen am Sonntagabend zum Abschluss. Herr Grant kehrte am Montag zurück und nahm die Mädchen wieder mit nach Hause. Als er von Nevas Bekehrung erfuhr, lachte er, machte allerlei Scherze und bereitete ihr viel Unruhe. Neva las täglich in ihrer Mutter Bibel. Und als sie ihrem Vater sagte, dass sie beabsichtige, sich taufen zu lassen, geriet er in Zorn und verbot ihr dies entschieden. Auch gestattete er ihr mehrere Wochen lang nicht, von zu Hause fortzugehen. Sogar die Bibel der Mutter verschwand und wurde nie mehr gefunden. Das schien für das arme Kind zu viel zu sein und in Verzweiflung gab sie ihre Stellung zum Herrn auf. Das war ein harter Schlag für Eva, denn sie hatte ihre Schwester so sehr bewundert wegen der Entscheidung, die sie traf, dem Herrn zu dienen. Auch war sie der Meinung gewesen, dass in der Bekehrung so etwas Begehrenswertes liege, dass man sie unter allen Umständen behalten wolle. Sie dachte an ihre arme, liebe Mutter, wie sie durch so harte Proben hindurch fest geblieben war; darum empfand sie es in der Tat als einen harten Schlag. Aber noch immer sagte ihr eigenes Herz: „Wenn ich achtzehn Jahre bin, will ich eine wirkliche, echte Christin werden.“ Gott kannte die Aufrichtigkeit ihres Herzens und der Same, der durch die Evangelistin ausgestreut worden war, fand fruchtbaren Boden, wo er keimen und zur rechten Zeit Frucht bringen konnte.

Die Ferien waren wieder vorüber und für die Kinder galt es, fleißig zu sein. War das ein Betrieb frühmorgens! Alle Arbeiten im Haus wurden getan; danach packten die Kinder ihr Frühstück ein und mussten dann eine halbe Stunde zur Schule laufen. Am Spätnachmittag eilten sie heim, bereiteten das Abendessen und verrichteten noch mancherlei Hausarbeit. Jedes hatte da seine besonderen Pflichten, die sie auch freudig verrichteten. Das raue Wetter griff Eva sehr an und oft war sie gezwungen, zu Hause zu bleiben. An solchen Tagen musste sie sich zufrieden geben, von ihren Brüdern und ihrer Schwester abzulauschen, was sie in der Schule Neues lernten.