Die Hauptaufgabe des Menschen

Es ist eine allgemein verbreitete, aber sicherlich ganz irrige Ansicht, dass der Glaube an Christus so etwas ist, das die Menschen gebrauchen, um sich auf den Tod vorzubereiten, es aber im Leben nicht so sehr bedürfen. Von diesem Wahn befangen, schieben Unzählige diese wichtige Sache solange hinaus, wie sie glauben, es mit Sicherheit tun zu können. Sie verleben die Zeit in dem Dienst der Sünde und erwarten, die Ewigkeit in dem Dienst und der Gemeinschaft Gottes zu verbringen. Obwohl sie ein gebetsloses Leben führen, so wollen sie doch nicht ohne Gebet sterben. Sie beabsichtigen, in den letzten Lebensstunden noch selbst zu beten oder einen christlichen Freund oder Prediger rufen zu lassen, um dies für sie zu tun. Doch kann ein Mensch ohne lebendige Herzensfrömmigkeit ebenso wenig recht leben, wie er recht sterben kann. Er eignet sich für das Leben auf dieser Erde ebenso wenig wie im Himmel.

Worin besteht die Hauptaufgabe des Menschen? Zu welchem Zweck hat Gott ihn erschaffen? Wozu hat Gott ihn mit solch herrlichen Fähigkeiten ausgerüstet? Wozu hat er ihm solch zahlreiche Gelegenheiten gegeben, nicht nur Gutes zu empfangen, sondern auch Gutes zu tun? Gott tut in seiner unendlichen Weisheit nichts umsonst. In allen seinen Werken arbeitet er nach einem großen und herrlichen Plan, und diesen Plan können wir leicht ergründen.

Die ganze Schöpfung soll ein Denkmal zum Lobe und Preise des Schöpfers sein, aufgerichtet, um ihn zu verherrlichen. „Der Herr macht alles zu bestimmtem Ziel“ (Spr. 16,4). „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündigt seiner Hände Werk“ (Ps. 19,2). Die ganze Natur, die lebendige wie die leblose, die vernünftigen wie die unvernünftigen Geschöpfe – alles ist ins Dasein gerufen worden, um den Schöpfer zu verherrlichen (Jes. 43,7). Schon die Beschaffenheit des Menschen weist auf den Plan eines weisen Schöpfers hin. Während er, soweit sein Körper in Betracht kommt, vieles mit anderen Geschöpfen gemein hat, so ist er doch mit Fähigkeiten ausgerüstet, die wir bei keinem anderen Geschöpf finden, und die ihn über alle erheben. „Es ist der Geist im Menschen und der Atem des Allmächtigen, der sie verständig werden lässt“ (Hiob 32,8; Elbf. Übers.).

Und wozu hat Gott dem Menschen den Verstand gegeben? Wozu das Gewissen? Wozu hat er ihn so empfindsam für die besseren Neigungen gemacht? Können wir annehmen, dass der Mensch trotz alledem nicht dazu bestimmt sei, einen erhabeneren Stand einzunehmen als die anderen Geschöpfe: die Tiere auf dem Feld und im Wald, die Vögel in der Luft oder der Wurm, der auf dem Boden kriecht? Ist ihm dies alles nur gegeben, damit er sich seine Nahrung sichern, seine natürlichen Begierden befriedigen und sein Leben in Mühe und Arbeit zubringen soll; um Schätze anzuhäufen, die vergänglich sind und die ihn niemals befriedigen können?

Nein, der Mensch wurde für einen höheren und erhabeneren Zweck erschaffen, und wer kann dieses missdeuten? Der Mensch wurde erschaffen, um Gott zu dienen und zu verherrlichen. Und zwar nicht nur unwillkürlich, wie die anderen Kreaturen, sondern bewusst, freiwillig und von Herzen. Wozu hat Gott uns den Verstand gegeben, wenn nicht dazu, um seine großen Schöpfungswerke zu betrachten, durch die er sich uns bezeugt? Wozu hat er uns den freien Willen gegeben, denn dass wir ihn vor allem anderen bevorzugen und seine Ehre suchen als das Höchste und Beste? Wozu hat er jene zarten Neigungen und Empfindungen in unser Herz gelegt, denn dass wir uns zu ihm neigen, ihn lieben und an ihm hangen sollen, als unserem höchsten Glück und unserem besten Teil? Wozu hat er uns das Gewissen und unsere Erkenntnis gegeben, denn dass wir zwischen Recht und Unrecht unterscheiden und das, was wir als recht erkannt haben, tun sollen, wie es uns im Worte Gottes gezeigt wird? Wozu hat er uns die Gabe der Sprache verliehen, denn dass wir von seiner Vollkommenheit und von seinen herrlichen Werken reden und seinen großen Namen über die ganze Erde verbreiten sollen?

Zu diesem erhabenen Zweck wurde der Mensch erschaffen. Und wenn er für irgend etwas anderes lebt, so handelt er dem Plane seines Schöpfers zuwider, und alle ihm von Gott verliehenen Fähigkeiten, Gaben und Kräfte werden missbraucht. Sein Leben ist nutz- und zwecklos, und es wäre besser, wenn er nie geboren wäre.

Wie traurig ist es zu sehen, wie eine Kreatur, die befähigt ist, einen solch erhabenen Stand einzunehmen, sich mit ganzer Seele an das Irdische hängt, das doch wie Staub vergeht. Wie sie ihre höchste Befriedigung darin sucht, dass sie ihren Lüsten und Begierden freien Lauf lässt und sich weder um die Rechte und Anforderungen Gottes noch um das Wohl ihrer Mitmenschen kümmert. Angenommen, Gott hätte den leblosen Teil seiner Schöpfung mit derselben Macht, die er dem Menschen gegeben, begabt, so dass sie den Willen Gottes tun oder sich dagegen auflehnen könnte. Wenn nun die Sonne sich weigern würde zu scheinen, der Regen nicht fallen wollte, die Felder sich weigerten Früchte zu tragen und die ganze Natur sich dem Willen Gottes widersetzen würde – wäre das nicht ein trauriger und herzzerreißender Anblick? Wer würde nicht darüber trauern, dass die Liebesabsicht und der herrliche Endzweck des Schöpfers dadurch vereitelt würde? Wer würde nicht erwarten, dass die Werke Gottes, die sich weigerten, den Zweck zu erfüllen, zu dem sie erschaffen wurden, mit einem Wort aus seinem Mund vernichtet würden, da sie es nicht wert wären, einen Platz in dem großen Weltall einzunehmen?

Oder nehmen wir einen anderen Fall an. Wenn die Engel im Himmel, die Gott für sich selbst erschaffen hat, und die jetzt damit beschäftigt sind, ihm zu dienen, ihn zu loben und zu preisen, sich gegen ihn auflehnen und die Kräfte und Fähigkeiten, die ihnen zum Dienste Gottes gegeben wurden, missbrauchen würden? Wenn ihre jetzt von der Liebe Gottes erfüllten Herzen sich von ihm wendeten und mit Hass erfüllt würden; wenn jede Harfe verstummen und an Stelle der himmlischen Harmonie und Einheit Verwirrung und Gotteslästerung treten würde – wäre ein solcher Wechsel nicht erschütternd? Wie schnell wären wir da bereit zu sagen, dass die Geschöpfe, die diese Verwirrung herbeiführten, es verdient hätten, sogleich in die äußerste Finsternis verstoßen zu werden, gleich denjenigen, die sich ehemals gegen Gott auflehnten.

Nun, Menschen wurden erschaffen, um Gott zu verherrlichen – ebensowohl wie die Engel. Und wenn sie sich weigern, dieses zu tun, machen sie sich eines ebenso großen Verbrechens schuldig, wie die Engel es tun würden. Ja, lieber Leser, du hast nicht mehr Recht dazu, dich gegen Gott aufzulehnen, seine Gebote zu missachten und dich zu weigern, ihn anzubeten und zu ehren, als der Engel Gabriel. Du bist verpflichtet Gott zu gehorchen, gleichwie er. Und wenn du dich weigerst, dieses zu tun, wirst du dafür zur Verantwortung gezogen werden. Dieselben Verpflichtungen, die ihn an den Thron des Himmels binden, binden auch dich. Es kann keine schwerere Anklage gegen den Menschen erhoben werden als diejenige, die einst gegen Nebukadnezar erhoben wurde: „Den Gott aber, der deinen Odem und alle deine Wege in seiner Hand hat, hast du nicht geehrt“ (Dan. 5,23).

Die ganze Schöpfung gehorcht dem Willen Gottes. Alle Himmelskörper durchlaufen die ihnen vom Schöpfer angewiesene Bahn. Die Erde trägt ihre Früchte und das Meer bleibt innerhalb der ihm angewiesenen Grenzen. Die Vögel in der Luft und die Tiere auf dem Feld und im Wald, Wind und Wolken, Feuer und Hagel – alle zeugen von der Macht Gottes und erfüllen auf die mannigfaltigste Weise den Zweck ihres Daseins. Nur der Mensch weigert sich, Gott zu verherrlichen. Der Mensch, die Krone der Schöpfung, der über die anderen Kreaturen herrschen sollte. Der Mensch, der mit Verstand und moralischen Kräften ausgerüstet ist, die ihn mit den Engeln verbinden. Ja, der Mensch ist so eingebildet und stolz, dass er es wagt, sich gegen die Herrschaft seines Schöpfers aufzulehnen. Die ganze Natur sträubt sich gegen einen solchen Abfall, gegen einen solchen Missbrauch seiner Kräfte. „Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn; aber Israel kennt’s nicht, und mein Volk vernimmt’s nicht“ (Jes. 1,3).

O dass ich doch den Leser dazu bewegen könnte, ein wenig über den Zweck seines Lebens nachzudenken! Halte ein wenig inne inmitten des geschäftigen Treibens, des Rennens und Jagens dieser Welt und frage dich: „Wozu hat mich Gott erschaffen? Wozu hat er mir diesen Körper gegeben, der so wunderbar gemacht ist? Wozu hat er mir meine Geistes- und Verstandeskräfte gegeben? Inwiefern ist meine Aufgabe verschieden von der des Tieres, das sich von seinem Instinkt leiten lässt? Ich bin sicherlich nicht dazu erschaffen, um nur die Erde umzugraben und mich mit irdischen Dingen zu beschäftigen. Meine Natur, mein ganzes Wesen verlangt nach etwas Höherem. Habe ich den Zweck meines Daseins erfüllt? Ach, ich habe kaum an Gott gedacht, ich habe mein Leben in Sünde und Torheit vergeudet. Ich ließ meine Neigungen nach anderen Dingen ausgehen. Alle meine Gaben und Kräfte habe ich missbraucht und hier stehe ich als einer, der nicht wert ist, dass ihm ein Platz in dieser Welt eingeräumt wird. Als ein unfruchtbarer Baum, der zu nichts nütze ist, denn dass er abgehauen und von dem Feuer des göttlichen Zornes verzehrt wird.“

Und nun möchte ich fragen: „Gedenkst du die Zukunft so zu verbringen, wie du die Vergangenheit verlebt hast? Ist es nicht höchste Zeit, dass du anfängst, den großen Zweck deines Lebens ins Auge zu fassen? Denke daran, wie viel es zu tun gibt. Denke an die Millionen, die in der Sünde verderben und nach dem Brot des Lebens verlangen. Es ist dein Vorrecht, nicht nur selbst gerettet zu werden, sondern auch andere retten zu helfen. Doch musst du das, was du zu tun gedenkst, unverzüglich tun. Bald wird das gegenwärtige Menschengeschlecht dahin sein und du wirst mit ihm vor Gottes Richterstuhl treten müssen. O gehe darum heute noch hin und fange an, in dem Weinberg deines Meisters zu arbeiten. Warum willst du noch länger müßig stehen, wenn es so viel Arbeit gibt und die Gelegenheit, die dir zur Betätigung geboten wird, bald vorüber ist?