Nimm!

Weißt du, wie man das Wesen wahren, biblischen Christentums in einem Wort ausdrücken kann? Ich will es dir sagen, das Wesen wahren Christentums heißt „Nimm!“ Viele Christen wissen das nicht. Viele meinen, das Wesen des Christentums heißt „Gib!“ Sie meinen, sie müssen geben. Was geben sie denn? Sie geben ihre Kirchenbesuche, ihre Gebetsstunden, ihre Hausandachten, ihr Beten als Bezahlung und meinen dann, sie hätten ihre religiösen Pflichten vollkommen erfüllt. Sie meinen, der Herr müsste ihnen seinen Himmel als Lohn für ihre Bemühungen zuteil werden lassen. Was ist das für eine falsche Vorstellung! Weißt du, was das im Grunde für eine Auffassung ist? Das ist Heidentum. Der Heide spricht zu seinen Götzen folgendermaßen: „Siehe, ich opfere dir das Schaf. Nun erwarte ich aber von dir, dass du dich erkenntlich bezeugst und meine Auen beschütztest und meine Felder behütest.“ Der Heide spricht es ganz deutlich aus, der Christ tut das nicht. Aber im Grunde seines Herzens denkt er gerade so, nämlich: „Ich bin so fleißig in die Kirche gegangen, ich habe immer an den Gebetsstunden teilgenommen – nun ist mir der Himmel doch ganz gewiss sicher.“ Was für eine Vorstellung! Als ob wir dem großen, allmächtigen Gott etwas geben könnten, als ob wir seine Gnade und Barmherzigkeit bezahlen könnten.

Nein, nein, wir haben nichts zu geben, aber wir dürfen nehmen. Je besser wir das Nehmen lernen, um so reicher werden wir, um so mehr bekommen wir. Es geht darum, dass wir das Nehmen lernen. Muss man denn das erst lernen? Ja, das muss man erst lernen, denn das Nehmen ist gar nicht so leicht.

Ich wollte den Kindern im Unterricht gerne klar machen, dass Glauben soviel sei wie Nehmen. Zu dem Zweck hatte ich ein paar Apfelsinen in die Tasche gesteckt. Die nahm ich nun heraus und ging damit auf das erste Mädchen zu: „Da, Martha, die schenke ich dir!“ Aber Martha lächelte nur verlegen und nahm sie nicht. Da gab ich sie der Helene, aber auch sie griff nicht zu. „Bertha, dann bekommst du sie.“ Auch Bertha ließ die Apfelsine vorbeigehen und so machten es alle. Ich bot der ganzen Klasse meine Apfelsinen an, doch ich behielt sie.

Als ich sie allen angeboten hatte, sagte ich: „Wisst ihr, was ihr jetzt getan habt?“ Die Kinder sahen mich erwartungsvoll an. ,,Ihr habt mich zum Lügner gemacht! Das wollten sie nun nicht zugeben. „Doch, das habt ihr getan. Ich habe euch allen die Apfelsine angeboten und ihr habt gedacht: Er macht Spaß‘. Ich habe jedem Einzelnen besonders gesagt: Ich schenke dir die Apfelsine‘ und ihr habt mir nicht geglaubt. Ihr habt nicht genommen, weil ihr nicht glaubtet.“ Da ging ihnen ein Licht auf. Als ich meine Apfelsinen noch einmal anbot, fand ich genug Abnehmer dafür; da hätte ich einen ganzen Korb voll haben können. So haben sie das Nehmen gelernt.

Hast du es auch schon gelernt, liebes Herz? O, ich wollte, du lerntest das Nehmen. Warum ist dein Leben oft so arm und kümmerlich gewesen? Weil du nicht genommen hast! Du hättest nehmen sollen, du darfst nehmen. Der Herr hat gesagt: „Tu deinen Mund weit auf, lass mich ihn füllen“ (Ps. 81:11). Du darfst Großes erbitten und erwarten. Du hast einen Gott, der reich ist über alle, die ihn anrufen. Aber es gibt viele Gläubige, die sind bescheiden, wo sie es nicht sein dürfen. Sie meinen, dass sei Demut, in Wirklichkeit ist das aber Unglaube. Wie viele Kinder Gottes wagen es nicht, die herrlichen Verheißungen so für sich in Anspruch zu nehmen, wie sie geschrieben stehen. Sie meinen: „Das ist zu viel für mich. So unbescheiden darf ich nicht sein.“ O, was für eine Torheit! Wieviel Segen für sich selbst geht auf diese Weise verloren und wie wird Gott dadurch versucht! Je mehr man von ihm erwartet und erbittet, umso mehr ehrt man ihn.

Kaiser Alexander der Große hatte einen Künstler, dem er eines Tages sagte, er solle sich von seinem Schatzmeister ausbezahlen lassen, was er wolle als Belohnung für seinen Dienst, den er dem Kaiser geleistet hat. Bald darauf kam der Schatzmeister in großer Aufregung zum Kaiser und sagte: „Er verlangt eine ungeheure Summe, die kann ich ihm doch nicht auszahlen.“ „Warum nicht?“, sagte Alexander. „Wenn er eine große Summe verlangt, beweist er, dass er ein großes Vertrauen zu mir hat. Ich werde sein Vertrauen nicht enttäuschen, zahle ihm, was er fordert!“ Meinst du, Gott ließe sich durch einen heidnischen Kaiser beschämen? Nein, tausendmal nein. Seine ganze Schatzkammer steht dir zur Verfügung. Da darfst kommen und nehmen, und je mehr du nimmst, desto mehr ehrst du ihn! Ach, dass doch alle Kinder Gottes diese einfache Lektion lernen möchten, dass ein wahres Christentum im Nehmen besteht!

Die Geschichte ist doch bekannt, wie ein Prediger zu einer armen Witwe kam. Sie saß gerade bei ihrem einfachen Mittagessen. Als er hereintrat, deckte sie rasch ein Tuch über die Schüssel, damit er nicht sehe, was sie darin hatte. Der Prediger sprach mit ihr über dies und das, dann fragte er nach ihrem Sohn im Ausland. Da ging ihr das Herz auf, sie konnte ihn gar nicht genug loben und schilderte, wie gut es ihm ginge. Da fragte der Prediger: „Aber wenn es ihm so gut geht, schickt er Ihnen dann nicht zuweilen mal Geld?“ „Nein, das hat er noch nicht getan“, war ihre Antwort. ,,Nur legt er öfters merkwürdige Bilder in seinen Brief. Ich habe davon einen ganzen Kasten voll.“ Dem Prediger ging ein Licht auf und er sagte zu der Witwe: „Wollen sie mir diese Bilder nicht mal zeigen, liebe Frau?“ „Gewiß, sehr gern“, sagte sie. Sie stand auf und ging hinaus. Diesen Augenblick nutzte er, um das Tuch von der Schüssel zu entfernen. Was war darin? Gekochte Kartoffelschalen! Das war ihr ganzes Mittagessen. Darum hatte sie die Schüssel bedeckt, um ihre Armut nicht sehen zu lassen. Dann kam sie wieder herein und der Prediger warf einen Blick in den Kasten: „Das sind keine Bilder, wie sie denken, das sind ja Banknoten. Sie sind eine reiche Frau und wissen es gar nicht!“ Sie hatte ein Vermögen im Kasten und dabei Kartoffelschalen.

Aber wie viele Gotteskinder gibt es, die auch so ein Vermögen in ihrem Besitz haben und es gar nicht wissen, gar keinen Gebrauch davon machen! Hast du es vielleicht auch so gemacht, als du keine Ahnung von deinem Reichtum hattest und Kartoffelschalen aßest? Lass dir heute zeigen, dass dir ein großes Vermögen gehört, und dass du davon Gebrauch machen darfst. Du darfst nehmen.

Als ich ein Knabe war, las ich gerne alte Geschichten und Sagen. Da las ich auch, ich weiß nicht mehr, war es eine Sage aus dem Siebengebirge oder von Königshäusern, von einem Mann, dem die blauen Wunderblumen den Berg aufschlossen. Er kam in eine große Halle hinein, in der sich viele Gegenstände aus lauter blinkendem Kupfer befanden. Es hieß, er dürfte davon nehmen, soviel er wolle. Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Flugs steckte er sich alle Taschen voll. Dann kam er in eine zweite Halle, in der war alles voll Silber. Da Silber wertvoller war als Kupfer, warf er geschwind alles Kupfer fort und füllte dafür Silber in die Taschen, soviel nur hineinging. Im dritten Saal war alles voll Gold. Nun ging es dem Silber gerade so, wie vorher dem Kupfer: es musste dem Gold Platz machen. Aber auch das Gold musste weichen, als er in den vierten Saal eintrat, der voller Edelsteine war. Natürlich warf er da alles Gold weg, um den Edelsteinen Platz zu machen.

Gerade so geht es im Christenleben auch. In Hohelied 1:4 heißt es: „Der König führte mich in seine Kammern“. In diesen Kammern geht es von Herrlichkeit zu Herrlichkeit. In welcher Kammer bist du, liebe Seele? Manche gehen nur in die erste Kammer, die Kupferkammer; und weil sie nicht weiter gehen, sagen sie, es gäbe keine Silberkammer. Und wer da sagt, es gäbe eine Edelsteinkammer, der sei ein echter Irrlehrer. Liebe Seele, lass dich nicht beirren, lass dich vom König in alle seine Kammern führen, lass dir seine ganze Herrlichkeit aufschließen, zeigen und dann nimm, nimm, nimm! Das darfst du! Welch ein herrliches Vorrecht! Was für eine königliche Erlaubnis!

Aber wenn wir so ein Recht haben, dann haben wir auch zugleich eine heilige Pflicht, dann müssen wir auch von den Rechten Gebrauch machen. Gott bietet seine Gabe dazu an, dass wir sie nehmen und Gebrauch davon machen. Und wenn wir das nicht tun, dann betrüben wir ihn. Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab – also damit wir ihn nehmen. Wir müssen ihn als unseren Heiland annehmen, sonst heißt es: Wer aber nicht glaubt, d.h. wer ihn nicht annimmt, der wird verdammt werden. ,,Wenn nun ihr, die ihr böse seid, dennoch euren Kindern gute Gaben geben könnt, wieviel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist geben denen, die ihn bitten!“ (Lk. 11:13). Also dürfen und müssen wir ihn aufnehmen, sonst heißt es: ,,Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein“ (Röm. 8:9).

„Welcher auch seines eigenen Sohnes nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben: wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“ (Röm. 8:32). – Also dürfen wir alles nehmen; und wir betrüben und erzürnen Gott, wenn wir es nicht tun. Will er uns alles schenken, dann dürfen wir auch alles nehmen. Hast du schon alles genommen? Oder hast du nur etwas genommen? Wenn du deinem Gott etwas zutraust, dann bekommst du etwas; traust du ihm viel zu, dann bekommst du viel; traust du ihm alles zu, dann bekommst du auch alles. Erwartest du nichts und traust ihm nicht, dann wirst du auch nichts bekommen.

Einmal traf ich einen alten, teuren Bruder. Eines Nachmittags sagte ich zu ihm beim Abschiednehmen: „Auf Wiedersehen, bis morgen früh!“ Da antwortete er: „Morgen früh kann ich nicht kommen, morgens muss ich immer husten.“ Ich sagte ihm: ,,Können Sie dem Herrn nicht zutrauen, dass er Sie morgen früh vor dem Husten bewahrt, um an der Versammlung teil zu nehmen?“ Er blieb dabei: „Morgen früh muss ich husten.“ Natürlich kam er am anderen Morgen nicht. Er musste husten, er erwartete nichts, darum bekam er auch nichts. Willst du immer weiter den Herrn damit betrüben, dass du ihm nichts zutraust und von ihm nichts erwartest? O, wie soll ich es dir denn sagen, dass du nehmen darfst mit heiliger Dreistigkeit? Immer wieder darfst du nehmen aus der unendlichen Gnade unseres Gottes. Ich bitte dich, lerne die Kunst, täglich und stündlich immer zu nehmen. Das Wesen wahren Christentums heißt: „Nehmen”.