Im Vaterhause und doch fern vom Vater

„Ach! Dass ich wüsste, wie ich ihn finden

Und zu seinem Stuhle kommen möchte ...“

Klar und melodisch waren diese ergreifenden Textworte der großen Arie aus Mendelssohns „Elias“ von den frischen Lippen eines jugendlichen Mädchens erklungen, das auf die stürmischen Bitten der anwesenden Gäste hin diesen musikalischen Vortrag geboten hatte. Jetzt beglückwünschte man sie von allen Seiten, nachdem sie wieder vom Flügel aufgestanden war, und sagte der anmutigen Tochter des Hauses, in dem man sich zu dem monatlichen Musikabend versammelt hatte, viel Angenehmes über ihre schöne Stimme. Wirklich entzückend, ja geradezu wunderbar habe sie gesungen. Wie meisterlich geschult hätten die Modulationen geklungen, wie fein abgetönt sei das leise Vibrieren ihrer glockenreinen Stimme gewesen! Ja, in der Tat ergreifend habe der herrliche Kunstgenuss gewirkt – und dergleichen mehr. Überall streckte man ihr bewundernd die Hände entgegen, hier und dort rief es: „Fräulein Meta!“, um ihr neue Komplimente zu machen. Das junge Mädchen war schließlich ganz betäubt von all diesen Lobeserhebungen und schlüpfte in ihrer Verlegenheit rasch aus dem Zimmer, um sich für ein paar Augenblicke in ihr stilles Stübchen zu flüchten. Sie musste sich erst einmal selbst wiederfinden. Mit erglühten Wangen lehnte sie am offenen Fenster und ließ die kühle Abendluft über sich hinstreichen, während ihre Hände sich krampfhaft ineinanderschlangen und ein suchender Blick das gestirnte Firmament streifte, als sollte ihr von dorther eine Antwort kommen.

Ach, es hatte sie niemand verstanden in ihrem Gesang! Die äußerlichen Rhythmen ihrer geschulten Stimme hatte man wohl verfolgt bis ins Kleinste hinein, sogar das leise Vibrieren derselben hatte man beobachtet. Aber dass es eine zitternde Bewegung des Gemüts war, das sich darin aussprach, hatte man nicht herausgehört. Der tiefe Sehnsuchtsschrei ihrer suchenden Seele war unverstanden geblieben.

Noch einmal wiederholten jetzt ihre Lippen die seufzende Klage: „Ach! Dass ich wüsste, wie ich ihn finden möchte ...“ Und selbst die klare Antwort, die sie vorhin in der Arie gesungen hatte:

„So ihr mich von ganzem Herzen sucht, so will ich mich von euch finden lassen ...“, vermochte ihre dürstende Seele nicht zu befriedigen. Sie wusste nicht, wie sie suchen sollte. War nicht ihr ganzes Leben ein halb unbewusstes Suchen und Fragen nach dem „Einen, was not ist“ gewesen? Und doch, welch unüberwindliche Schranken gesellschaftlicher Pflichten, strenger Standesvorurteile und starrer Rechtgläubigkeit umringten sie überall und ließen ein freies Glaubensleben nicht zur rechten Entfaltung kommen!

Die Ersteren riefen sie auch jetzt wieder zurück in den Kreis der drunten harrenden Gäste, denen ihr vorhin unbemerktes Entrinnen nicht erst auffallen durfte. Auch war es Zeit zur Teestunde, zu der sie das duftende Getränk selber auf der silbernen Maschine zu bereiten pflegte – und die Eltern sollten doch nicht erst nach ihr zu schicken brauchen. So eilte sie mit all den ungelösten Rätseln in der jungen Seele wieder hinab in die lichtdurchfluteten Räume und trat mit verbindlichem Lächeln, als wäre nichts geschehen, wieder in den Kreis ihrer Gäste zurück. Mit liebenswürdiger Aufmerksamkeit waltete sie ihres Amtes am Teetisch und sorgte in zuvorkommender Weise für die Bewirtung der Gäste.

Aber es kam ihr plötzlich alles um sie her wie eine große Lüge vor, obwohl man die musikalischen Zusammenkünfte im Hause ihrer Eltern mit Recht eine edle Geselligkeit nennen konnte. Es war nichts, was den „guten Ton“ und die feine Sitte verletzt hätte. Die Unterhaltung bewegte sich in vornehmen, teilweise geistvollen Bahnen, ja, es schwebte sogar ein frommer Hauch darüber, denn im Hause des rechtgläubigen, theologischen Professors Teuthorn durften freireligiöse Ansichten nicht laut werden. Bei den musikalischen Genüssen aber kam es besonders zum Ausdruck, dass alle oberflächlich leichten, tändelnden oder gar tendenziösen Kompositionen förmlich verpönt waren, man im Gegenteil fast ausschließlich klassische Musik pflegte und mit besonderer Vorliebe geistliche Gesänge, wie Arien, Motetten und dergleichen mehr zum Vortrag brachte. Und doch – und doch! Des Welterlösers Macht, die man begeisternd hier besang, war nicht zu spüren. Er, der Gekreuzigte und Auferstandene, wie ihn die Schrift darstellt, war nicht in diesem Kreise zu finden.

O, noch nie zuvor hatte es Meta so deutlich als einen schwer auf ihrem Gemüt lastenden Druck empfunden, dass doch eigentlich Theorie und Praxis hier im grellen Widerspruch standen. Noch eben sang man so gefühlvoll: „Zerreißt eure Herzen und nicht eure Kleider“, und erntete jubelnden Beifall dafür. Aber es wäre als höchst unschicklich empfunden worden, wenn einer dann die Frage aufgeworfen hätte, ob denn irgendjemand in der Gesellschaft wirklich schon sein Herz einmal in aufrichtiger Buße vor Gott zerrissen habe. Und doch wollten sie alle gern fromm sein.

Der Kreis der Gäste hatte sich nach den üblichen Dankesbezeugungen für den genussreichen Abend wieder zerstreut. Meta hatte den Eltern und Geschwistern herzlich Gute Nacht gesagt und war gedankenvoll in ihr Erkerstübchen hinaufgestiegen, um sich zur Ruhe zu begeben. Doch sie konnte lange keinen Schlaf finden. Immer wieder bewegten sie die Gedanken, die in letzter Zeit schon hin und wieder in ihr aufgestiegen und heute plötzlich mitten im Gesang so mächtig auf sie eingestürmt waren, dass sie kaum sich zu halten vermochte. Sie wusste sich selbst keine Rechenschaft darüber zu geben, aber sie hatten in der bangen Frage: „Ach! Dass ich wüsste, wie ich ihn finden möchte!“ beredten Ausdruck gefunden. Ja, es war wirklich, wenn auch noch unklar und verworren, ihres Herzens sehnsuchtsvoller Wunsch gewesen, den sie, wenn auch unverstanden, mit ihrem Gesang in die Reihen der Gäste hineingetragen hatte. Wo aber war die Lösung zu finden? Was war es überhaupt mit der Seele des Menschen? Woher all dies Forschen und Fragen, dies Suchen und Jagen, dies Sehnen nach Frieden und dauerndem Glück? Warum dies große Rätsel, wenn es keine Lösung dafür gab – gab es denn wirklich nirgends eine? Ach, für sie wohl nicht! Sie hatte trotz aller Anstrengung zur Frömmigkeit noch keine entdeckt. Und was sollte sie noch mehr tun? Auch bei ihr hieß es wie beim reichen Jüngling: „Das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf.“

Sie hatte eine vorzügliche, streng christliche Erziehung genossen. Ihre Mutter war eine edle, tiefreligiöse Frau, die sie schon als kleines Kind die Händchen falten und regelmäßig beten lehrte. Der Vater hielt fest an dem Buchstaben der Heiligen Schrift, er ließ auch nicht ein Tüttelchen vom Gesetz fallen und schleuderte vom Kathederstuhl der Universität geistvolle Blitze gegen die überhandnehmenden freisinnigen Lehren herab. Auch daheim las er in eigener Person gewissenhaft jeden Tag den Morgen- und Abendsegen aus einem dicken Andachtsbuch. Dann sprachen sie alle zusammen das Vaterunser und sangen zum Schluss einen Choral mit Harmoniumsbegleitung. Auch hielt der Professor im Übrigen auf eine gute christliche Hausordnung. Er litt bei keinem seiner Kinder ein offenbares Unrecht. Sie mussten alle strenge Selbstzucht üben und als gesittete, moralisch reine Menschen vor der Welt dastehen, die dem guten Rufe ihres Hauses Ehre machten. Er forderte von seine Söhnen eine makellose Reinhaltung des alten, ehrenwerten Familiennamens. Seine Töchter hatte er nicht in die sogenannte große Welt eingeführt, um sie nicht von ihrem Gifthauch verderben zu lassen. Sie besuchten weder Bälle noch sonstige laute öffentliche Vergnügen. Er bot ihnen dafür innerhalb der Grenzen seines Hauses eine edle Geselligkeit, die er selbst überwachen konnte, und ließ sie nur mit einigen auserlesenen Familien verkehren, wo er sie ebenfalls in guten Händen wusste.

Seine vortreffliche Gattin war mit ihm in diesen Punkten der Erziehung vollständig einig. Und sie selbst wies ihre Kinder oft mit sanftem Mahnen darauf hin, dass Gott in ihr Leben schaue und sie daher mit allem Ernste bestrebt sein müssten, so zu wandeln, dass sie einst vor ihm bestehen könnten. Außerdem hielt man sie noch fleißig an, Gutes an Armen und Bedrängten zu tun, sich an Wohltätigkeitsbestrebungen zu beteiligen und auch dann und wann Gaben für die Mission zu opfern.

Auf dieses alles hin meinte man, einmal mit gutem Gewissen vor Gottes Richterstuhl treten zu können, um seine rechtschaffene Gesinnung und gute Werke in die Waagschale des Gerichts zu legen. Natürlich bedurfte man als sündiger Mensch noch immerhin der Gnade, von der man ja auf Erden oft gesungen hatte. Aber man hoffte doch, auf Gottes barmherzige Liebe gestützt, im letzten Stündlein einmal selig zu werden.

Man hoffte – das war Metas jungem Herzen trotz aller sonst edlen Beweggründe ein so ungewisser Begriff geblieben. Ihre nach Wahrheit dürstende Seele verlangte nach einem sicheren, bleibenden Felsengrund, der ihr nicht wie eine blasse Hoffnung unter den Füßen wankte. Konnte es denn aber ein „noch mehr“ geben, als man bei ihr zu Hause mit allen Kräften zu tun bemüht war? Sie überdachte das ganze Leben im elterlichen Hause, das weithin als ein vorzügliches, echt christliches galt. Waren nicht in der Tat ihre teuren Eltern hohe Vorbilder und Muster von Pflichttreue und Frömmigkeit? Und sie selbst, strebte sie nicht mit allem Fleiß danach, ihren Fußtapfen nachzuwandeln? Und dennoch ein solch unbefriedigtes Herz dabei, das nirgends zur vollen Ruhe und zu wahrem Glück kommen konnte! Woran lag dies nur?

Da tauchte plötzlich vor ihrem geistigen Auge ein Erinnerungsbild auf, das sie einst gelegentlich eines kurzen Besuches im Hause ihres Oheims Eberhard Kuhlmann wahrnahm. Dort hatten sie auch Familienandacht gehalten und dabei gelesen und gesungen, gerade wie daheim, aber es war trotzdem etwas anderes gewesen. Das Andachtsbuch hatte die Bibel ersetzt, sie schöpften direkt aus Gottes Wort – und dann das Gebet! Das vor allem war es gewesen, was Meta so eigentümlich befremdend berührte und doch dabei eine fast bezwingende Macht auf sie ausgeübt hatte. Ohne jeden Anhalt an ein gedrucktes Buch war da frei aus dem Herzen gebetet worden. Und so klar und bestimmt, als ob man geradezu in lebendiger Vorstellung mit jemand redete, der mitten unter ihnen im Zimmer weilte. Dabei hatten sie alle auf den Knien gelegen, das begriff Meta nicht. Es hatte beinahe etwas Abstoßendes für sie gehabt, es war ihr so „katholisch“ vorgekommen. Und doch, eines inneren Eindrucks hatte sie sich nicht dabei erwehren können: Ihre Verwandten trugen etwas an sich, das sie nicht besaß.

Auch sonst offenbarte sich in ihrem ganzen Wesen und Wandel, ganz abgesehen von den häuslichen Andachten, etwas eigentlich Unnennbares, das aber fortwährend an die Bibel erinnerte. Und Meta hatte dies wie einen stillen Vorwurf für ihre eigene Person empfunden, obwohl niemand denselben ausgesprochen hatte. Im Gegenteil waren alle bemüht gewesen, sie mit Liebe zu umgeben und ihr den Aufenthalt möglichst angenehm zu gestalten. Sie erinnerte sich noch gut, dass sie damals mit sehr gemischten Empfindungen im Hause ihres Oheims weilte. Einerseits hatte sie das Siegesfrohe, Lebenssprühende ihres Glaubens mächtig angezogen, und andererseits hatte sie sich davon getroffen und beunruhigt gefühlt, sodass sie mit einem Stachel im Herzen wieder abgereist war.

Jetzt, in dieser Stunde nächtlichen Nachdenkens wurde es ihr auf einmal klar, dass das tiefe Sehnsuchtsfragen und Unbefriedigtsein ihrer Seele, ja die ganze Unruhe ihres hin und her geworfenen Herzens eigentlich nur von jenem kurzen Besuch bei Onkel Eberhard herstammte. Sie war fast versucht, ihm darum zu grollen, weil er sie aus der stillen Bahn selbstzufriedener Frömmigkeit in so bange Fragen und Zweifel stürzte. Und doch brannte es ihr auch wieder auf der Seele, der ganzen Sache auf den Grund zu kommen.

Sie beschloss daher, morgen ihren Vater darum zu befragen, der ja alles wusste und ihr in seiner Gelehrsamkeit gewiss den besten Aufschluss zu geben vermochte, denn er war ja in der Bibel zu Hause wie sonst kaum einer. Er konnte sie von Anfang bis Ende in den geistvollsten Redewendungen erklären und ihr deshalb auch sicher sagen, wie sie das „Suchen von ganzem Herzen“ anfangen sollte, das dem „Finden und zu seinem Stuhle kommen“ vorausgehen musste, nach dem ihre Seele so heiß verlangte. Mit diesem Gedanken und Entschluss schlief sie endlich, etwas beruhigt und vom vielen Grübeln müde, auf ihrem Lager ein.

Am nächsten Tag, in der Dämmerstunde, klopfte sie leise an das Studierzimmer ihres Vaters an. Der gelehrte Herr schrieb gerade eifrig an einer theologischen Abhandlung über die Taufe und war daher im ersten Augenblick unwillig über die unliebsame Störung. Ebenso war er erstaunt über das unberufene Eintreten eines seiner Kinder in sein Heiligtum. Denn es gehörte mit zur streng eingehaltenen Hausordnung, dass der Vater während seiner Arbeitsstunden nicht gestört werden durfte, wenn nicht ein ganz besonders wichtiger oder dringender Anlass dazu vorlag.

„Ist etwas vorgefallen, Meta?“, fragte er daher mit leichtem Stirnrunzeln, während er seine goldene Brille weglegte und die Tochter erwartungsvoll ansah.

„Nein, lieber Vater, es ist nur ein persönliches Anliegen. Ich möchte dich so gern etwas allein fragen“, stammelte Meta errötend und blieb verschüchtert an der Tür stehen.

„Dann tritt, bitte, näher und sprich dich offen darüber aus“, entgegnete er in rascher Selbstbeherrschung, während er ihr einen Stuhl hinschob. Meta ließ sich gehorsam darauf nieder, aber sie zögerte noch mit dem Beginnen. Es fiel ihr schwer, alles, was ihr Herz in den letzten Monaten so heiß durchwogte, in die rechte Worte zu kleiden. Auch war sie durch des Vaters gemessenen Empfang etwas ängstlich geworden und stammelte daher zuerst verlegen: „Es tut mir leid, dass ich dich gestört habe, Papa, aber ...“

„Schon gut, schon gut!“, besänftigte sie der Professor und strich ihr, als er ihre Bangigkeit sah, väterlich übers Haar und sagte aufmunternd:

„Kannst dich deinem Vater ruhig anvertrauen. Wo fehlt es dir denn, meine Meta?“

Da brach der stumme Bann, und zwar anfangs nur leise und stockend, dann aber immer beredter schilderte sie ihm den ganzen Kampf ihrer beunruhigten Seele. Sie ließ ihn hineinschauen in all ihre quälenden Zweifelsfragen, das bange Zagen vor der Ewigkeit und die Furcht, dass sie am Ende gar einmal nicht selig werden könne. Schließlich fügte sie noch mit heißen Wangen hinzu: „Onkel Eberhard sagt, man müsse die Wiedergeburt am eigenen Herzen erlebt haben, und – und da wollte ich dich gern fragen, was das eigentlich sei.“

Der Professor stand wie vom Donner gerührt. Hatte ihn schon das vorangegangene Geständnis seiner Tochter mit tiefem Befremden erfüllt, sodass er nicht recht wusste, wie er aus all diesem verworrenen Durcheinander klug werden sollte, so brachte ihn Metas letzte Erklärung vollends um seine mühsam aufrechterhaltene Selbstbeherrschung.

Jetzt meinte er, den Nebelschleier vor seinen Augen zerreißen und der Sache auf den Grund zu sehen. Aber diese Ursache empörte ihn. Sie ließ, seiner Ansicht nach widerrechtlich, eine neue Lehre im Kopfe seiner Tochter herumspuken, der er ganz entschieden entgegentreten musste. Er ging ziemlich erregt mit großen Schritten im Zimmer mehrmals auf und ab und blieb dann plötzlich vor Meta stehen, sie durchdringend ansehend. Dann sagte er langsam: „Aha! Daher weht der Wind; das konnte ich mir wohl denken. Hätte ich aber geahnt, dass ein rein verwandtschaftlicher Besuch bei Onkel Eberhard solche Folgen nach sich ziehen würde, wahrlich, ich hätte dich nie sein Haus betreten lassen, obwohl er deiner Mutter Bruder ist!“ Dann fügte er noch fast drohend hinzu:

„Hüte dich vor deinem Oheim Eberhard, er ist ein ganz gefährlicher Sektierer, der dir den Glauben deiner Väter rauben will!“

Meta saß tief erschrocken da. Sie war wie aus allen Himmeln gefallen und schaute den Vater mit großen, angstvollen Augen an. Der Blick seines Kindes verwirrte den gelehrten Herrn augenblicklich etwas, er erinnerte ihn an den eines verwundeten Rehes. Doch er fasste sich rasch. Hier durfte er Gefühle nicht gelten lassen. Der ganze Grundton seines Hauses schien zu wanken bei diesen rebellischen Gedanken seines eigenen Kindes. Wenn er katholisch wäre, würde er diese Gesinnung geradezu als ketzerisch bezeichnet haben. Doch war er nicht gut evangelisch? Hielt er nicht der Väter Glauben, darin er groß gewachsen war, hoch in Ehren? Und war es nicht seine heilige Pflicht, auch seine Kinder darin zu erziehen, anstatt sich von ihnen maßregeln zu lassen? Und was fehlte diesem seinem Glauben noch zu einem rechtschaffenen Wandel vor Gott? Waren sie nicht alle damit ausgekommen, und für das kleine, unverständige Mädchen da sollte er nicht mehr genügen? Dummes Zeug! Er musste Metas Bedenken mit einem Zuge kräftig niederschlagen.

Halt! Da lag ja seine fast vollendete Broschüre über die Taufe, die er in derselben mit vielen Beweisgründen als die Wiedergeburt verfocht. Er nahm das Manuskript vom Schreibtisch und eifrig darin blätternd sagte er plötzlich, zu Meta gewandt: „Jetzt merke einmal gut auf, Kind. Hier stehen gerade ein paar Seiten, die dir den Punkt klarmachen können, was Wiedergeburt ist. Da hast du gleich die beste Antwort auf deine brennenden Fragen.“ Und er las ihr mit starker Betonung die einzelnen Sätze des ihm am wichtigsten erscheinenden Abschnittes vor. Darin stellte er mit glänzender Beredsamkeit und religionswissenschaftlicher Begründung das Wasserbad der Taufe als die Wiedergeburt hin, und zwar als einen schon zumeist im frühesten Kindesalter erfolgten Vorgang, durch den wir persönlich in Gottes Gnadenbund aufgenommen und der Gotteskindschaft teilhaftig geworden, also bereits wiedergeboren seien. Eine Bekehrung und Erneuerung des Herzens hätten demnach nur Heiden nötig. Christen aber seien wiedergeborene Leute, die sich jedoch eines rechtschaffenen Lebenswandels, wahren Glaubens an Gott und guter Werke zu befleißigen hätten, um sich der Gnade würdig und gottgefällig zu erweisen und endlich einmal, natürlich nur auf Christi Verdienst und Gerechtigkeit gestützt, selig sterben zu können.

Im tiefgelehrsamen Gedankenaufbau war die ganze Schrift verfasst und der gewichtigste Teil davon brauste jetzt in einer Hochflut geistvoller Redewendungen an Metas Ohr vorüber. Sie saß da mit tief gesenktem Haupt und gefalteten Händen und lauschte aufmerksam. Doch so schlagend auch die Beweisführungen klangen, so treffend auch die Geistesblitze herniederzuckten, die gleich grellen Streiflichtern die ganze Sache zu beleuchten suchten – auf Metas Gedankenwelt vermochten sie dennoch nicht überzeugend zu wirken. Es war ihr zumute, als ob trotz der zündenden Wärme des Vortrags ein kalter Wasserstrahl auf ihr Herz gegossen wurde, der alle schüchtern erwachten Glaubensteile wieder zu Eis erstarren ließ. Wie vernichtet saß sie da, ein Bild tiefen Seelenjammers.

Der Professor merkte es zuerst gar nicht, welch unglücklichen Eindruck sein Kind vor ihm machte, denn er wiegte sich noch im geistigen Entzücken über seine wohlgelungene Broschüre. Doch als Meta auch nach beendeter Vorlesung noch so unbeweglich sitzen blieb, fiel ihm erst ihre gedrückte Stimmung auf. Aber er hielt dieselbe für Reue und Zerknirschung, und das stimmte ihn selber mild. Er legte ihr die Hand auf das gesenkte Haupt und sagte im mitleidigen Tone: „Armes Kind, du bist verführt worden! Kehre wieder um von der neuen sektiererischen Lehre und lass dir an dem Glauben deiner Väter genügen, die sich alle dessen trösteten, in der Taufe ihr Wiedergeburtsrecht erlangt zu haben! Lass dich daher nicht beirren, als ob du kein Gotteskind seist! Bleibe nur fromm und halte dich recht, dann wird es dir wohlgehen, und du darfst hoffen, auf diesen Glauben hin auch einmal selig sterben zu können.“

Ach, wieder nur hoffen, wo ihr Herz nach Gewissheit schrie! Doch wagte Meta nichts mehr zu entgegnen. Sie fürchtete, da sie innerlich selber noch so schwankend war, sie könne sich am Ende doch getäuscht haben oder vielmehr getäuscht worden sein, denn der Vater musste es ja besser wissen, er war doch schließlich klüger als Onkel Eberhard. So stand sie langsam auf und hauchte ein schüchternes „Dankeschön!“

Professor Teuthorn nickte flüchtig dazu und legte Meta noch die ernste Mahnung ans Herz, ja nicht etwa ihre Geschwister oder gar die gute Mutter mit diesen aufrührerischen Ideen zu beunruhigen, damit der schöne Friede ihres Hauses nicht gestört werde. Dann sagte er noch zum Schluss: „So, nun lass die dummen Grillen fahren und sei wieder mein gutes, verständiges Kind!“ Damit schob er sie sacht zur Tür hinaus. Er selber kehrte wieder zu seiner Arbeit zurück, anscheinend sehr befriedigt darüber, dass er Meta gegenüber seine wissenschaftliche Autorität bewahrt und durch ein väterliches Machtwort ihre ängstlichen Bedenken und Zweifel zerstreut habe. Dass er jedoch der nach Wahrheit von Gott hungernden Seele seines Kindes einen Stein statt Brot geboten hatte, das machte sich der gelehrte Herr dabei nicht klar.

An Metas leise angeregte Glaubensflügel hatte es sich seit jener Stunde wie ein schweres Bleigewicht gehängt. Eine starre Ruhe war über ihre Seele gekommen, die ertötend wirkte. Sie bemühte sich, als gute Tochter verständig zu sein und nicht mehr an die quälenden Zweifelsfragen zu denken, die ihr junges Herz so sehr beunruhigt hatten. Eine Weile gelang es ihr auch, alle neu auftauchenden Gedanken mühsam niederzukämpfen, aber auf die Dauer ließ sich das Mahnen des Heiligen Geistes nicht dämpfen. Und Gottes Stimme, die sie wiederholt leise beim Namen zu rufen schien, ließ sich nicht länger überhören. Es war ihr mitunter, als vernehme sie in ihrem Innern die Engelsfrage am offenen Heilandsgrabe: „Was weinst du?“, oder: „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?“

– Ach ja, das war wohl die Ursache, warum sie keine Freude empfand an den strengen Glaubensformeln, in denen sie großgezogen war. Sie hatte nur einen toten Heiland, aber in Onkel Eberhards Hause wohnte ein lebendiger. Den Unterschied aber vermochte sie sich nicht klarzumachen, sie empfand ihn nur. Auch kämpften in ihrer Seele noch tief verborgene, ja, jetzt sogar verbotene Sehnsucht und stolzes Widerstreben. Sie vermochte ihr Herz noch nicht unter den Geist Gottes zu beugen, der sie um ihrer Sünde willen zu strafen begann. Sie empfand wohl, dass ihr etwas fehle, ja, dass sie trotz des Vaters Einspruch in Gottes Augen nicht recht sein könne. Aber sie wusste nicht, wie sie sein Wohlgefallen erlangen könne.

Sie musste demnach doch wohl noch nicht fromm genug sein und sich deshalb ernster bestreben, es zu werden. Sie betete öfter, ging fleißiger zur Kirche und las viele erbauliche Bücher. Aber trotz all dieser sich selbst auferlegten und mit peinlicher Gewissenhaftigkeit innegehaltenen religiösen Übungen fühlte sie nicht, dass sie davon besser geworden sei. Ja, die Unzufriedenheit mit sich selbst wuchs noch mehr dabei.

Sie musste mehr Nahrung für ihre religiöse Bedürfnisse haben, sie musste etwas tun! Dazu erschienen ihr aber die Schranken ihres elterlichen Hauses plötzlich zu eng. Da war alles so wohlgeordnet, jedem war sein besonderer Teil von Pflichten zugemessen, es ging alles so am Schnürchen, dass es eigentlich gar nicht möglich war, etwas Außergewöhnliches zu tun. Das hätte befremdend, ja geradezu störend gewirkt, weil es die Grenzen der streng eingehaltenen Hausordnung verwischte. Meta sehnte sich deshalb hinaus in einen größeren Wirkungskreis, wie er ihrer tätigen Natur entsprach. Sie fühlte sich daheim nicht mehr befriedigt, obwohl sie in einem Kreise edler Menschen stand, die sie zwar herzlich liebte, aber von denen sie sich nicht mehr verstanden fühlte. Aber das durfte sie sich ja nicht anmerken lassen, dass sie im Innern jetzt oft anders dachte. Der Vater hatte es ihr verboten. Deshalb fühlte sie sich beengt und bedrückt, denn den Gedanken selbst konnte sie nicht auf die Dauer wehren. Sie stiegen, wenngleich aus Kindespflicht niedergehalten, doch immer wieder in ihr auf.

Mancherlei Anfechtungen und Zweifel bestürmten ihre Seele. Der Glaube stritt wider die Vernunft. Neue Fragen durchkreuzten ihr Hirn und ihr praktischer Verstand stellte unwillkürlich allerhand Vergleiche an zwischen der als unantastbar aufgestellten Theorie ihres Vaters und der Praxis des wirklichen Lebens. Wenn sie so im Stillen die Menschen auf der Straße in ihrem hastigen Drängen und Vorwärtsstreben oder im feinen Gesellschaftszirkel in ihrer vornehm bewahrten Ruhe betrachtete, und das tat sie gern, so fand sie überall klaffende Unterschiede zwischen ihrem Tun und Lassen und den Lehren, die die Bibel aufstellte, oder den Predigten, die man sonntags von der Kanzel hörte.

Am Sonntagnachmittag war ja das Straßenbild ein ganz anderes als des Morgens, wo alles feierlich zur Kirche ging und würdige Gesichter dazu machte. Hinterher durfte man dann sowenig davon reden, was man eben im Gotteshaus so dringend ans Herz gelegt bekam. Höchstens plauderte man auf dem Heimweg mit Bekannten ein wenig über den guten Redner, das wohllautende Organ und die vorzügliche Einteilung seiner Predigt. Oder man ließ umgekehrt mitleidig lächelnd einige abfällige Bemerkungen über einen minderbegabten Geistlichen fallen. Nach den inneren Eindrücken, die das Wort Gottes auf den Kirchenbesucher machte, wagte man schon gar nicht zu fragen. Ach, und oft hatte man ja auch gar keine solchen gehabt! Man war ebenso leer und kalt wieder aus der Predigt gekommen, wie man hineinging, trotzdem sie schwungvoll aufgebaut und mit begeisterten Worten vorgetragen worden war. Und wie stimmte denn am Sonntagnachmittag das laute, weltliche Treiben mit der am Morgen geforderten Heilighaltung des Tages des Herrn? Es wurde gar nicht danach gefragt, war doch schließlich alles erlaubt, ja, teilweise wurde es sogar von maßgebender Seite aus noch mitgemacht. Und dann – wenn Meta mit ihrem zum grübelnden Nachdenken angelegten Gemüt noch tiefer in das Volksleben hineinblickte und an all die aufregenden Sensationsgerüchte dachte, die so oft die Stadt durchwirrten und bis hinein in ihr stilles Haus drangen. Wenn sie die Menschen sich streiten, beneiden und hassen sah oder gar von den Gräueltaten der Verbrecher hörte, die zu Dutzenden die Gefängniszellen füllten. Wenn der Jammer der Verzweiflung an ihr Ohr schlug, in der so mancher aus der guten Gesellschaft sein verfehltes Leben Gott achtlos wieder vor die Füße warf. – Ach, dann konnte sie es nicht begreifen, dass dies alles wiedergeborene Leute sein sollten, die im Vollbewusstsein ihrer in der Taufe erlangten Gotteskindschaft durch dies Erdenleben wandelten. Wäre es denn möglich gewesen, so tief zu sinken? Papa hatte aber doch gesagt, alle – alle getauften Christenkinder seien auch wiedergeboren. Sollte sich ihr kluger Vater trotz aller Gelehrsamkeit in diesem Punkte geirrt haben? Es fiel ihrer kindlichen Hochachtung vor seinem unbegrenzten Wissen schwer, dies zu glauben. Und doch sprachen die vor ihren Augen entrollten Lebensbilder so offenkundig dagegen. Aber sagt nicht schon der fromme Psalmensänger David: „Große Leute fehlen auch?“ Irren war ja schließlich menschlich! Wo aber war die Grenze? Waren vielleicht nur die guten, ganz frommen Menschen wiedergeborene Leute?

O, dann wollte, dann musste sie sicherlich noch viel frömmer werden, damit es auch von ihr so heißen könne! Vielleicht gelingt es ihr durch gute Werke. Aber was sollte sie tun? Daheim hatte sie so wenig Gelegenheit. Und selbst die gewohnten Wohltätigkeitsbestrebungen befriedigten sie nicht mehr, sie halfen ihr auch nicht zum Besserwerden, vielleicht weil sie dieselben bisher nur so nebenbei tat. Sie hatte einmal gehört, eine gute Sache erfordere eine ganze Kraft, um sie voranzubringen. Und gab es nicht wirklich edle Menschen, die ihr ganzes Leben für ein hohes Ideal einsetzten? Ob die wohl in Gottes Augen für wiedergeboren galten? O, dann wollte sie ganz gewiss auch dieses Ziel erreichen und gern ihre volle Lebenskraft für solch gutes Lebenswerk einsetzen. Sie dachte und grübelte viel darüber nach, was sie wohl am besten beginnen könne, um ein Gott wohlgefälliges Leben zu führen.

In dieser Zeit noch unschlüssigen Ringens saß sie auch eines Tages im Schein der untergehenden Sonne am offenen Fenster und schaute sinnend auf die Straße hinab. Da huschte still und lautlos die schwarze Gestalt einer Diakonisse vorüber. So geheimnisvoll feierlich wirkte ihr Anblick auf Metas ideal veranlagtes Gemüt. Die blendend weiße Haube, über die zitternd die letzten Sonnenstrahlen huschten, erschien ihr förmlich wie ein um der Schwester Haupt gewobener Heiligenschein. Lange schaute sie der entschwinden- den Diakonisse nach – mit fast sehnsuchtsvollen Augen – und plötzlich hob ein tiefer, befreiender Seufzer ihre Brust. Sie hatte ihr Lebensideal gefunden – sie wollte Schwester werden!

Mit glühendem Eifer ergriff sie diesen Plan und schritt auch ohne Zögern zu seiner Ausführung. Zuerst vertraute sie ihren Wunsch der sanften Mutter an. Dort fand sie volles Verständnis. Es entsprach ganz dem religiösen Gemüt dieser hochherzigen Frau, die in selbstverleugnender Liebe ein hohes Lebensideal sah, das sie auch opferfreudig am stillen Familienherde pflegte, – ihre Meta so warm von dem Drange beseelt zu sehen, ihr junges Leben in den Dienst werktätiger Nächstenliebe zu stellen. Ja, es war ihr sogar ein lieber Gedanke, eines ihrer Kinder ganz in der Arbeit einer so hohen, heiligen Sache zu wissen, für die sie selbst stets ein lebhaftes Interesse zeigte und, wo es nottat, auch eine offene Hand zur Unterstützung hatte. Sie zog die Tochter liebevoll in ihre Arme und drückte einen Kuss auf ihre weiße Stirn. „Gott segne dich für diesen Entschluss, mein Kind! Ja, gehe hin und tue etwas für den Heiland, damit wirst du dir einen Gotteslohn verdienen!“, sagte die dann freundlich aufmunternd.

„Liebe Mama, ich will nicht nur etwas, ich will viel tun und eine tüchtige Diakonisse werden, damit der liebe Gott sein Wohlgefallen an mir haben kann! Meinst du, dass ich dann vor ihm bestehen kann, wenn ich unermüdlich meine volle Pflicht auf Erden getan habe?“

„Aber Herzchen, mache dir doch keine solch vorzeitigen Sorgen! Bist du doch das frömmste meiner Kinder gewesen, das am ernstesten es mit seinen Pflichten genommen und sich am meisten mit göttlichen Dingen beschäftigt hat. Tue du nur redlich das deine, dann wirst du auch Gnade finden vor Gottes Angesicht!“

„Und wenn ich nun nicht immer soviel leisten kann, wie ich gern möchte und auch sonst nicht gottwohlgefällig zu leben vermag?“

„Nun, es wird nicht mehr von den Haushaltern verlangt, als dass sie treu erfunden werden. Und im Übrigen mangeln wir alle des Ruhms, den wir vor Gott haben sollten. Aber barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte. Er waltet mit seiner Gnade über alle, die ihn fürchten. Und das tust du doch, liebes Kind, denn du bist ja von klein auf in wahrer Gottesfurcht und unverfälschtem Glauben großgezogen worden!“

„Gewiss, Mama. Aber dieser bloße Kinderglaube genügt mir eben nicht mehr allein, ich möchte gern noch einen werktätigen Glauben dazu haben. Denn der Apostel Jakobus sagt doch einmal irgendwo, dass der Glaube ohne Werke tot sei. Und deshalb habe ich mir den Diakonissenberuf gewählt, weil man da recht viele gute Werke tun kann. Das muss dem lieben Gott doch angenehm sein.“

„Freilich, mein Liebling, dann wirst du ihm sicher wohlgefallen. Spricht doch auch derselbe Apostel davon, dass der Glaube sogar durch die Werke vollkommen geworden sei.“

Das war eher Wasser auf Metas Mühle als des Vaters bloße Theorie, die sie trotz aller Gelehrsamkeit nicht zu befriedigen vermochte. Der Vater hatte ihr und sich selber unbewusst einen Stein statt Brot geboten. Die weiche Mutterhand dagegen hatte ihr aus den an und für sich biblischen Wahrheiten, die jedoch aus dem Zusammenhang herausgerissen waren, ein sanftes Schlummerkissen bereitet, auf dem Metas erwachtes Gewissen wieder in vorläufige Ruhe eingewiegt ward.

Das junge Mädchen dachte jetzt nicht mehr soviel über ungelöste Glaubensrätsel nach, denn sie hatte keine Zeit dazu. Sie hatte alle Hände voll zu tun mit den Vorbereitungen zu ihrem nahe bevorstehenden Eintritt in das Diakonissenmutterhaus der ziemlich entfernten Hauptstadt des Landes.

Professor Teuthorn hatte merkwürdig schnell seine Einwilligung zu der Tochter Entschluss gegeben. Erstens schmeichelte ihn derselbe etwas, denn er war vor den Augen der Welt das beste Zeugnis eines guten Erfolges seiner vorzüglichen, christlichen Erziehungsweise. Und zweitens hielt er Meta bei ihrer schwärmerischen Veranlagung für sehr gut aufgehoben in der streng konfessionell gerichteten Diakonissenanstalt. Da würde sie am besten vor gefährlichen, sektiererischen Lehren bewahrt bleiben, deren verderblichen Einfluss er so sehr für das Glaubensleben seines Kindes fürchtete.

Meta selber war ganz erfüllt davon, dass sie das Ziel ihrer stillen Wünsche nun glücklich erreicht sah. Sie freute sich auf die viele Arbeit, nicht nur, weil sie gern rüstig schaffte, sondern vor allem, weil sie innere Befriedigung davon erhoffte. Die guten Werke barmherziger Nächstenliebe würden sicher die mahnende Gewissensstimme zum Schweigen bringen, die sie oft so quälend anklagte, dass sie nicht recht vor Gott stehe. Deshalb wollte sie dort auch alles tun, was nur irgend in ihren Kräften stand, um sich das Wohlgefallen Gottes zu erlangen. Ja, ihre ganze Kraft wollte sie einsetzen und all den jugendlichen Schaffensmut, der besonders nach ihrer letzten Unterredung mit der geliebten Mutter in ihr emporgeflammt war.

In ihrer feurigen Begeisterung fiel ihr auch der Abschied vom Elternhause nicht sonderlich schwer, obwohl sie mit herzlicher Liebe an den Ihren hing und sie alle untereinander ein äußerlich schönes und friedliches Familienleben führten. Im tiefsten Innern aber hatte sie sich doch beengt und bedrückt gefühlt, weil ihr Herz nach etwas Höherem, Besserem verlangte als nach irdischem Glück und dem formell gewordenen Christentum. Deshalb meinte sie, ihren toten Glauben durch gute Werke selbst lebendig machen zu müssen, und dazu schien ihr der Fortgang aus dem Elternhause willkommene Hand zu bieten.

Ach, das arme Kind erkannte und verstand noch nicht den geheimnisvollen Zug des Vaters zum Sohne, in dem allein er uns eine freie und völlige Erlösung verordnet hat, die alle Fesseln und Ketten unseres schuldbeladenen Daseins zu sprengen vermag. Sie wollte diese selber lösen und Gott mit sich versöhnen durch eigene Werkgerechtigkeit. Draußen in dem neuen Leben wollte sie Gott nahetreten durch heiligen Dienst und darin würdig vor seinen Augen wandeln. Im eng begrenzten Vaterhause fühlte sie sich von Gott so weit entfernt, weil sie ihm nichts zu bringen vermochte. Daran, meinte sie, müsse es liegen. Sie wusste nicht, dass sie mit dieser Auffassung in einer großen Selbsttäuschung lebte. Sie empfand nur, dass sie, wohlbehütet im irdischen Vaterhaus, doch fern war vom himmlischen Vater.