Die Försterfamilie

In einem hellen, geräumigen Zimmer lag Martin Brendel im Bett. Er war vom Blut gereinigt, seine Wunden zum Teil mit Pflaster bedeckt. Sein zerrissenes und aufgeschwollenes Gesicht sah entsetzlich aus. Der Jäger und seine Frau waren emsig um ihn beschäftigt, denn noch hatten sie kein Zeichen des wiederkehrenden Lebens an ihm wahrgenommen. Die Brust hob sich nicht, durch die Lippen ging kein Atemzug. Und doch war es schon am andern Morgen. Die beiden menschenfreundlichen Leute waren nahe daran, die Hoffnung aufzugeben und von ihren Belebungsversuchen abzustehen. Da trat ein junges, hübsches Mädchen in das Zimmer, das hatte eine Flaumfeder in der Hand und fragte: „Lebt er noch?“

Es scheint nicht, Dorothea“, sagte die Frau, „alle unsere Mühe ist vergebens; er wird wohl tot sein.“

Ein Wunder ist’s nicht“, sprach der Mann; „denn wer unter solcher Marter nicht stirbt, der muss ein zähes Leben haben. Ein Wunder wär’s, wenn er noch lebte.“

Wollt ihr es nicht mit der Feder versuchen?“, fragte das Mädchen, ohne näher an das Bett zu treten.

Gib sie her“, antwortete die Försterin, und Dorothea reichte ihr die Flaumfeder hin. Da blickte sie in das entstellte Gesicht des Jünglings, wandte sich schaudernd ab und sagte: „Er muss ein arger Verbrecher gewesen sein, weil er solche entsetzliche Strafe erleiden musste und Gott so Schreckliches über ihn ergehen ließ.“

Jene erwiderte: „Dorothea, du urteilst zu schnell. Nicht jede Strafe ist dem Vergehen angemessen, und viele Menschen haben schon unschuldig leiden müssen.“

Ganz unschuldig war der einmal nicht“, sagte der Förster,

jedenfalls ein Wilddieb. Freilich ist diese Strafe sehr hart, aber die Leute sollen auch das Wild in Ruhe lassen.

Der Markgraf ist aber auch ein gar zu strenger Herr“, entgegnete die Frau.

Der Jäger sagte: „Weißt du denn, ob er aus unserem Lande ist? Es kann auch ein Fremder sein, der Hirsch wird nicht nach den Grenzen gefragt haben.“

In Gottes Namen“, sprach sie, „sei er her, woher er wolle, wir tun unsere Schuldigkeit als Menschen und Christen.“

Aus diesem kurzen Gespräch erkennen wir, dass die Leute noch nichts von der Sache erfahren hatten.

Unterdessen hatte die Försterin die Flaumfeder auf die Lippen des Jünglings gelegt, und alle drei schauten voll Erwartung auf dieselbe hin. Sie wurde langsam von dem Munde weggeweht.

Es ist noch Leben in ihm!“, rief Dorothea.

Die Hausfrau aber sagte: „Es kann auch sein, dass wir die leichte Feder selbst durch unseren Atem oder durch eine Bewegung der Luft weggeweht haben. Bleibt einmal unbeweglich stehen und haltet den Atem an.“ So geschah es, aber die Feder wurde wieder leise weggehoben, und so noch drei-, viermal. Nun war kein Zweifel mehr darüber, dass noch Leben in dem Körper sei, jedenfalls war es aber sehr schwach.

Dorothea wurde hinausgeschickt, und die beiden anderen verdoppelten nun ihren Eifer, den schwachen Lebensfunken des Gemarterten wieder anzufachen. Wozu soll ich beschreiben, was sie alles taten? Mit einem Wort, der Herr wollte nicht, dass Martin schon aus dem Leben scheide, und er bereitete den guten Leuten die große Freude, seine Werkzeuge zu sein. Das Leben regte sich nach einiger Zeit wieder, der Puls fing bemerkbar an zu schlagen; aber die Augen öffnete Martin noch eine geraume Zeit nicht; auch war noch keine eigene Bewegung an ihm bemerkbar.

Wir wollen ihn ruhen und dem Leben allmählich entgegengehen lassen. Unterdessen soll der Leser mit der Försterfamilie soviel als nötig bekannt werden.

Das Haus, in welchem Martin eben lag, und das die Försterleute bewohnten, lag ganz allein hart an der äußersten Grenze der Markgrafschaft, tief in Wald und Bergen. Es war eigentlich mehr ein Jagdschlösschen als ein gewöhnliches Forsthaus. Die Vorfahren des wilden Markgrafen hatten es schon erbauen lassen, um sich bisweilen hier aufzuhalten und in diesen an Wild sehr reichen Bergwäldern dem Vergnügen der Jagd nachzugehen. Seit seiner Erbauung war ein Teil desselben stets von einem Förster bewohnt, der die Aufsicht über diese Grenzwaldungen zu führen hatte und das Wild hegen musste, damit die fürstliche Herrschaft von ihren großen Jagden eine reichliche Beute zurückbringen konnte.

Die Familie des jetzigen Försters, bis zu seinem Urgroßvater hinauf, hatte das Amt an diesem Schloss versehen. Es ging vom Vater auf den Sohn über; darum nannte man das Jagdschlösschen mit dem Bezirk, welcher dazu gehörte, die Erbförsterei Wilgartstein. Wilgart war nämlich der Name der Familie, und der Förster, den wir schon einigermaßen kennen, hieß Konrad.

Konrad Wilgart stand noch im kräftigen Mannesalter, in den fünfziger Jahren. In diesen Wäldern und Bergen aufgewachsen und von seinem Vater in der Jägerei unterwiesen, war er am Körper rüstig und stark geworden. Seine Redensart war nicht die der feinen Welt. Wie sein Herz dachte, so sprach die Zunge. Jene feine Lügnerei der so genannten gebildeten oder vornehmen Welt war nicht seine Sache. Er konnte nicht freundlich sein und schmeicheln, wenn es ihm nicht so ums Herz war. Er war ein Feind der schönen Worte und Komplimente, bei denen die Leute sich doch meist gar nichts denken, oder oft sogar das Gegenteil von dem, was ihre Zunge spricht. Bei seinen Reden kam es ihm auch nicht darauf an, ob das, was er sagte, etwas hart und sogar derb lautete; meinte er es doch ehrlich. So war das Äußere dieses Mannes rau, weil ihm die feinere Sitte fehlte, aber unter dieser rauen Hülle schlug ein gutes Herz, das es mit aller Welt gut meinte und an Freud und Leid anderer Menschen innigen Anteil nahm. Auf sein Wort konnte man bauen, seine Redlichkeit war unbestechlich, seine Treue gegen seinen Herrn, den Markgrafen, felsenfest. Der Vorteil seines Herrn galt ihm sein eigener. In dem ihm übertragenen Amte war er daher eifrig, pünktlich und streng gewissenhaft. Mit einem Wort: Er war ein gerades, biederes Gemüt, ein ehrenfester Mann.

Christine, seine Frau, die Tochter eines Kaufmanns in einer entfernten Stadt, hatte in vieler Beziehung eine bessere und feinere Erziehung genossen, als Konrad Wilgart. Sie war eine äußerst verständige Hausfrau, besaß ein sanftes, liebreiches Gemüt, und obgleich ihr dies von Natur schon eigen war, so war es doch unendlich veredelt worden durch das Evangelium. Was sie tat, geschah nicht mehr bloß aus natürlicher Gutmütigkeit, sondern aus Liebe zu dem Herrn. Man kann sagen: Sie war wahrhaft fromm, weil alle ihre Handlungen aus lebendigem Glauben hervorgingen und darum erst wirkliche Tugenden waren.

In dieser Beziehung war sie wesentlich von ihrem Mann verschieden, namentlich in der ersten Zeit ihrer Ehe. Wilgart glaubte damals, ein natürlich gutes, redliches Herz, Ehrlichkeit und ein Lebenswandel, dem man nicht Böses nachreden könne, das sei schon wahre Frömmigkeit und Tugend. Ja, es kam bisweilen sogar vor, dass er sich im Gespräch mit Christine dieser guten Eigenschaften rühmte. Da sagte er meist: „Tue recht und scheue niemand, das ist meine Religion; ich denke, weiter brauche ich nichts, um ein Christ zu sein und auch selig zu werden.“ Christine gab sich viel Mühe, ihn von der Irrigkeit und Schädlichkeit seiner Meinung zu überzeugen.

„Lieber Konrad“, sagte sie bei solcher Gelegenheit, „ein natürlich gutes Herz ist eine sehr dankenswerte Gottesgabe, weil es das Streben nach Tugend und Frömmigkeit sehr erleichtert, aber es ist darum noch nicht selbst tugendhaft und Gott wohlgefällig. Ebenso wenig ist ein so genanntes ehrbares Leben, an dem die Menschen nicht gerade etwas zu tadeln finden, schon ein wahrhaft frommes, tugendhaftes, gottgefälliges Leben. Am allerwenigsten darf sich der Mensch auf beides etwas einbilden, oder gar einen Anspruch auf Lohn, auf die Seligkeit, darauf gründen. Das beste menschliche Herz ist in seinem natürlichen Zustand nicht frei von der Sünde und bedarf der Erneuerung oder Wiedergeburt. Wenn sich der Mensch auf das so genannte natürlich gute Herz verlässt, so steht er stündlich in Gefahr zu sündigen, weil dies Herz nicht immer beständig bleibt, sondern sich durch die Umstände und die Leidenschaften leicht verleiten lässt, etwas zu tun, was vor Gott nicht recht ist. Du, lieber Konrad, sagst wohl, recht tun sei die Hauptsache. Das ist wahr, aber um in Gottes Augen recht zu tun, müssen wir vor allem im rechten Verhältnis zu ihm stehen. Was vor den Menschen und selbst vor dem eigenen verkehrten Herzen rein erscheint, ist oft vor Gott unrein. Was wir „recht tun“ nennen, ist oft unrecht vor Gott, weil es nicht selten aus Stolz, aus Furcht oder aus Eigennutz, überhaupt aus Eigen- und Selbstliebe geschieht, während alles doch nur aus Liebe zum Herrn geschehen sollte. Gott den Herrn sollen wir lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele und von ganzem Gemüt und aus allen unseren Kräften, und alles, was wir denken, reden, tun oder unterlassen, soll aus Liebe zu ihm geschehen. Was einen anderen Grund hat, ist nicht gut, so wie es in der Heiligen Schrift steht: „Was nicht aus dem Glauben geht, das ist Sünde.“ (Röm. 14:23). Du wirst einsehen, lieber Konrad, dass wir beim besten Herzen und beim ehrbarsten Leben immer noch Gottes Schuldner bleiben, und dass es mit dem, was die Welt gewöhnlich, „recht tun“ heißt, nicht so weit her ist, als man meint. Vor allen Dingen müssen wir also Vergebung suchen, und die können wir bei Christus finden. Und aus Dankbarkeit für diese Vergebung müssen wir den Herrn lieben und um seinetwillen, aus Liebe zu ihm, allem Bösen endgültig entsagen und alles Gute tun, ohne uns einen Verdienst daraus zu machen oder einen Lohn zu begehren. Das heißt „recht tun“ und christlich leben. Sieh, Lieber, das ist meine Religion.“

So redete Christine zu ihrem Mann. Dieser schüttelte freilich anfangs den Kopf, weil es ihm nicht recht in den Sinn wollte. Und so will dies noch heute vielen Tausenden nicht in den Sinn; denn es ist dem natürlichen Menschen zu hart und seinem Stolz, seiner Eigenliebe, kurz seiner ganzen Denkungsart zuwider. Später dachte Wilgart viel darüber nach, und meinte sogar manchmal, seine Ansicht und die seiner Frau kämen am Ende doch auf eins heraus, obgleich dies nicht der Fall war.

Nicht selten hatte Christine Gelegenheit, ihren Gatten darauf aufmerksam zu machen, auf welchem schwachen Grunde seine so genannte Tugend ruhe. Sie tat das immer auf die sanftmütigste Weise und nur darum, weil ihr das Heil seiner Seele so am Herzen lag. Ich will nur eine dieser Gelegenheiten anführen.

Wilgart und Christine waren bereits mehrere Jahre verheiratet, und es schien, als ob der Herr ihre Ehe nicht mit Kindern segnen wolle. Christine war zwar auch zuweilen betrübt darüber, aber weil es eine Schickung von Gott war, so klagte sie nicht. Konrad dagegen wurde erst betrübt, dann unwillig und fing an mit der Vorsehung zu hadern. Seine Frau machte ihn darauf aufmerksam, wie wenig er, trotz seinem von Natur aus gutem Herzen, vor der Sünde sicher sei, weil ihm die Liebe zum Herrn fehle, die nicht nur in Freuden, sondern auch in Widerwärtigkeiten sich ihm ganz ergibt. „Siehst du Konrad, wie es mit deinem „recht tun“ steht? Ist’s recht getan, dass du murrest?“

Da antwortete er unwillig: „Soll ich denn nicht unwillig werden, wenn ich sehe, dass mir ein Glück versagt wird, welches Tausende besitzen? Soll es mich nicht kränken, dass meine Familie ausstirbt und die Erbförsterei an einen anderen kommt?“

Nein“, sprach die Frau, „unwillig sollst du nicht werden, auch wenn es dir leid tut. Es ist eine Schickung von dem Herrn, und wer die Liebe des Glaubens hat, der lässt sich auch das gefallen, ohne von der Liebe zu lassen. Denn diese Liebe ist langmütig und freundlich, sie eifert nicht, sie stellet sich nicht ungebärdig und lässt sich nicht erbittern; sie verträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“

Mehrere Jahre waren vergangen, als endlich der sehnliche Wunsch der Eheleute erfüllt werden sollte. Wilgart war außer sich vor Freude. Aber er erwartete bestimmt einen Sohn und hatte keinen andern Gedanken. Christine hätte wohl auch gewünscht, dass der Herr das sehnliche Verlangen ihres Mannes erfüllen möge; aber sie dachte auch daran, dass es anders kommen könne und sprach dann immer: „Herr, nicht wie ich, sondern wie du willst.“

Das Kind kam zur Welt, und Konrads bestimmte Hoffnung war getäuscht – es war ein Mädchen. Wie vorher vor Freude, so war er jetzt außer sich vor Trostlosigkeit und klagte laut. Das tat Christine im Herzen weh. Unter Tränen sagte sie zu ihm: „Lieber Konrad, dein gutes Herz lässt dich im Stich und deine Religion Tue recht und scheue niemand“ reicht nicht mehr aus. Du tust unrecht und scheuest selbst deinen Gott nicht mehr. Soll er seinen Willen nicht haben, du aber den deinigen? Bedenke das und versündige dich nicht so sehr.“

Ich habe wohl mit dir von Herzen gewünscht, dass der Herr dir einen Sohn bescheren möge. Da er es aber anders beschlossen hat, soll er darum unrecht haben, sollen wir ihn weniger lieben, ihm weniger dankbar sein für seine Gabe? Nein, lieber Konrad, ich danke ihm von ganzem Herzen für sein teures Geschenk, tue du’s auch. Und zum Zeichen, dass wir in diesem Kinde seine große Liebe erkennen, lass uns ihm den Namen Dorothea geben. Das bedeutet ja eine „Gabe Gottes“.“

Auf solche Weise besänftigte sie das Herz ihres Gatten und übte mit der Zeit einen so wohltätigen Einfluss auf dasselbe, dass er von Tag zu Tag immer mehr veredelt wurde und allmählich einsah, dass der lebendige und nie wankende Glaube seiner Frau doch mehr wert sei und zugleich mehr Trost und Frieden gebe, als all sein bisheriger Tugendstolz. Man kann sagen, er wandte sich immer mehr von sich selbst weg zum Herrn, und dann kam er auch noch zum wahren Glauben an Gott.

Dem Kinde gab man den Namen Dorothea, wie es die Mutter wünschte. Der Vater sah in seiner Einsamkeit zu Wilgartstein immer mehr ein, welch ein Segen mit diesem Kind in sein eheliches und häusliches Leben gekommen sei, und hing an diesem Kind mit großer Liebe. Es blieb das einzige. Aber obgleich Konrads erster und sehnlichster Wunsch ohne Erfüllung blieb, so murrte er doch nicht mehr. Von seiner Frau hatte er gelernt, was rechte Liebe und rechte Ergebung ist.

Dorothea wuchs in der frischen, gesunden Wald- und Bergluft zu einem schönen Mädchen heran. Aber der Geist, welcher sie aus dem Gemüt und dem ganzen christlichen Leben der Mutter anwehte, diese reine Himmelsluft gläubiger Liebe, ließ ihr Gemüt und ihren Geist noch viel kräftiger und schöner gedeihen, als die Waldluft ihren Körper. Sie war in mancher Beziehung das Ebenbild der Mutter: Heiter, fröhlich, wie das christliche Gemüt immer ist, sanft und liebevoll, an Leib und Seele wohlgebildet. In der Zeit, wo wir sie zum ersten Mal kennen gelernt haben, stand sie im Alter von etwas über sechzehn Jahren.

Ich habe den Leser, soweit es notwendig war, einen Blick in die Försterfamilie auf Wilgartstein tun lassen und hoffe, dass ihm dies Bild einer christlichen Familie als ein freundliches erschienen ist. Nun aber ist es Zeit, dass wir wieder in der Erzählung zu Martin Brendel zurückkehren.