Göttliche Verwerfung

„Weh ihnen, wenn ich von ihnen bin gewichen!“ (Hos. 9,12). Dies ist eine der schrecklichsten Drohungen, die in der Bibel zu finden sind. Kann es für einen Menschen wohl etwas schrecklicheres geben, als von Gott, der die Quelle alles Lebens ist, verstoßen zu werden?

Und wann wird diese schreckliche Drohung an den Unverbesserlichen ausgeführt werden? Nach dem Tod? Ohne jeden Zweifel. Über das Grab hinaus ist keine Gnade verheißen. Denjenigen, die unvorbereitet in die Ewigkeit gehen, wird nie wieder eine Gelegenheit zur Annahme des Heils angeboten werden. Darum legt die Bibel auch so viel Gewicht auf das sofortige Handeln und warnt so entschieden vor dem Zögern.

Und doch ist es eine ernste Wahrheit, dass die Gnadenzeit eines Menschen schon lange vor seinem Tod zum Abschluss kommen kann. Wenn Gott die gnadenreiche Einwirkung seines Heiligen Geistes von einem Menschen zurückzieht, so ist dessen Los schon ebenso sicher besiegelt, als ob er sogleich vor seinen Richterstuhl gerufen würde. Oh, dass doch alle diejenigen, die die Erlangung ihres Seelenheils aufzuschieben geneigt sind, die in diesem Kapitel hervorgehobenen Wahrheiten beherzigen möchten!

Das Heil des Menschen ist von der Wirkung und Vermittlung des Heiligen Geistes abhängig. Ohne diese kann man ebenso wenig errettet werden, wie es ohne den Versöhnungstod Christi möglich wäre. Der Heiland mag sein Leben für uns dahingeben und eine herrliche Erlösung erwerben. Das volle und freie Heil mag noch so oft und dringend angeboten werden. Sind aber die Herzen durch den Heiligen Geist nicht erweckt und willig gemacht, so werden sie die Annahme des Heils verweigern. Es ist der Heilige Geist, der den Menschen von seinen Sünden überzeugt und sein Herz erweicht. Auch ist es der Geist Gottes, der den Gläubigen in alle Wahrheit leitet, ihm in allen Lebenslagen tröstend und helfend zur Seite steht und ihn auf den Tag der Wiederkunft des Herrn versiegelt. Alle Heiligkeit, die ein Mensch erlangen kann, ist eine Frucht des Geistes. Wenn der Heilige Geist nicht mächtig an dem Herzen des Sünders wirken würde, wäre dieser für die Gnadenerweisungen Gottes unempfänglich. Die göttliche Wahrheit mag ihm noch so klar und deutlich vorgestellt werden, sie wird ihn nicht beeinflussen oder überzeugen, wenn sie nicht von der Kraft des Heiligen Geistes begleitet ist.

Diese gnadenreiche Einwirkung des Heiligen Geistes kann nach einer bestimmten Zeit zurückgezogen und der Sünder sich selbst überlassen werden, um auf dem eingeschlagenen Weg dem ewigen Verderben entgegenzugehen. „Mein Geist soll nicht ewiglich mit den Menschen rechten“ (1.Mose 6,3; Elbf. Übers.). Daher auch die ernsten Mahnungen: „Betrübet nicht den Heiligen Geist“ (Eph. 4,30); „den Geist dämpfet nicht“ (1.Thes. 5,19). Von den Sündern eines früheren Zeitalters wird uns berichtet: „Aber sie erbitterten und entrüsteten seinen Heiligen Geist; darum ward er ihr Feind und stritt wider sie“ (Jes. 63,10). Diejenigen, die den Einwirkungen des Geistes Gottes widerstehen, laufen Gefahr, in ihrer Blindheit und Herzenshärtigkeit gelassen zu werden, ohne jemals wieder durch den Heiligen Geist erweckt oder beunruhigt zu werden.

Esau verkaufte seine Erstgeburt um ein Linsengericht. Und nachher, als er den väterlichen Segen erlangen wollte, wurde er zurückgewiesen. Er fand keinen Raum zur Buße, obwohl er sie mit Tränen suchte (Heb. 12,16-17). Wie verzweifelt und bitter klang die Klage Sauls, als er sich von Gott verlassen sah: „Ich bin sehr geängstet: die Philister streiten wider mich, und Gott ist von mir gewichen und antwortet mir nicht“ (1.Sam. 28,15). Wie ergreifend ist auch der Ausruf Jesu, den er machte, als er über Jerusalem weinte: „Wenn doch auch du erkenntest zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient! Aber nun ist’s vor deinen Augen verborgen“ (Lk. 19,42).

Wenn Menschen in früheren Zeiten von Gott verworfen wurden, so kann dies auch heutigentags geschehen. In diesem Evangeliumszeitalter herrscht große Gefahr, den Heiligen Geist zu betrüben. Er ist überall am Wirken, aber überall wird ihm auch Widerstand entgegengesetzt. Je mächtiger er wirkt, je gefährlicher ist es, ihm zu widerstehen. Es ist nicht zu bezweifeln, dass viele, die noch auf dieser Erde leben, bereits der Verdammnis anheimgefallen sind und ihr ewiges Schicksal besiegelt haben. Der Geist Gottes, der einst an ihnen wirkte und sich um sie bemühte, ist von ihnen gewichen. Und einerlei, wie lange sie noch auf Erden leben mögen, ihre Gnadenzeit ist vorbei, und sie leben nur, um ihre Schuld je länger je mehr zu vergrößern. So gehen sie dem Tage des Zorns und der Vergeltung entgegen. Alle Mittel, die angewandt werden, sie zur Buße zu bringen, werden vergeblich sein. Umsonst wird ihnen gepredigt, für sie gebetet, für sie geweint. Das Reich Gottes mag ihnen sehr nahe gebracht, die ganze Umgebung erweckt werden und der Geist Gottes sich mächtig bezeugen. Hunderte und Tausende mögen sich bekehren, sie aber werden in ihrer Verstocktheit beharren und schließlich verloren gehen.

Es ist nicht unsere Sache festzustellen, wer diese unglücklichen Geschöpfe sind. Wir mögen keinen als unrettbar verloren halten, solange er diesseits des Grabes ist. Wir können hoffen, dass auch der Verhärtetste noch zur Buße kommen wird. Doch ist es gut, wenn unsere Hoffnung mit Furcht und Bangen verbunden ist.

Wie lange der Heilige Geist sich um ein widerspenstiges Herz bemüht und wann er seinen gnadenreichen Einfluss zurückzieht, ist eines jener verborgenen Dinge, die er allein weiß. Da der Einfluss des Heiligen Geistes völlig unverdient ist, kann Gott diesen verlängern oder zum Abschluss bringen, je nachdem er es in seiner unendlichen Weisheit für gut ansieht. Er mag dem Sünder jahrelang nachgehen oder auch schon im nächsten Augenblick von ihm weichen. Um etliche bemüht sich der Heilige Geist bis zum Ende ihres Lebens. Anderen folgt er bis ins hohe Alter, wieder anderen nur bis in die mittleren Jahre. Und in vielen Fällen haben wir Grund zu glauben, dass er von einer Seele schon in der Jugend gewichen ist.

Der verstorbene Prediger Hermann Norton erzählte folgende rührende Begebenheit. Ich habe sie mehr als einmal von seinen Lippen gehört.

Ein bejahrter Zauderer fragte einmal, indem er die Hand des Gottesmannes ergriff: „Glauben Sie, dass es noch Gnade gibt für einen Menschen, der über achtzig Jahre lang in der Sünde gelebt hat?“

„Alle diejenigen, die aufrichtig Buße tun und an den Herrn Jesus Christus glauben, können Gnade erlangen“, lautete die Antwort.

Noch immer die Hand des Gottesmannes festhaltend, fragte er noch einmal mit zitternder Stimme, während Tränen über sein gefurchtes Antlitz liefen: „Glauben Sie, dass Gott einem Menschen vergeben kann, der ihm einundachtzig Jahre lang widerstanden hat?“ Ohne auch nur eine Antwort abzuwarten, fuhr er in verzweifeltem Ton fort: „Ich weiß, dass es für mich keine Vergebung mehr gibt, ich muss in meinen Sünden sterben!“

Dies bewog den Prediger zu fragen, warum er glaube, dass Gott ihn nicht mehr annehmen werde.

Er erwiderte: „Ich will es Ihnen sagen und Ihnen das enthüllen, was ich noch nie irgendeinem Menschen gegenüber ausgesprochen habe. Als ich einundzwanzig Jahre alt war, wirkte der Geist Gottes an mir mächtig. Ich war von meinem verlorenen Zustand überzeugt und um mein Seelenheil sehr bekümmert. Doch war ich zu jener Zeit mit einer Anzahl junger Männer eng befreundet und schämte mich, ihnen zu zeigen, dass ich um meiner Seele Seligkeit besorgt war. Fünf oder sechs Wochen lang las ich täglich in meiner Bibel und betete im Verborgenen. Doch eines Tages fasste ich den unseligen Entschluss, diese wichtige Sache aufzuschieben, bis dass ich verheiratet sei und ein ruhigeres und regelmäßigeres Leben führen könne. Ich wusste, dass ich einen großen Fehler beging.“

„Als ich dann verheiratet war und mich eingerichtet hatte, dachte ich an meinen Vorsatz, mich ernstlich um mein Seelenheil zu kümmern, und an das feierliche Versprechen, das ich Gott gemacht hatte, mich mit ihm versöhnen zu lassen. Ich empfand aber gar keine Neigung, gar keinen Trieb zur Buße in meinem Herzen und beschloss daher, die Sache noch zehn Jahre weiter hinauszuschieben und mich dann auf den Tod vorzubereiten.“

„Die Zeit kam. Ich dachte wohl an mein Versprechen, empfand aber ebenso wenig Neigung zur Buße wie vor zehn Jahren. Ich nahm mir deshalb vor, die Sache noch einmal zehn Jahre anstehen zu lassen. Und wenn mich Gott so lange erhalten würde, mich dann allen Ernstes um mein Seelenheil zu kümmern. Gott hat mir das Leben erhalten, aber ich lebte in meinen Sünden weiter. Und erst jetzt erkenne ich meinen schrecklichen und hoffnungslosen Zustand. Ich bin verloren.“

„Ich glaube, dass ich im Alter von einundzwanzig Jahren gegen den Heiligen Geist gesündigt und nun schon sechzig Jahre lang gelebt habe, seit meine Gnadenzeit vorbei ist. Ich weiß, dass es für mich keine Vergebung mehr gibt.“

Als er gefragt wurde, ob man mit ihm beten soll, antwortete er: „Ja, aber es wird nichts nützen!“, so furchtbar gewiss war er sich seines Verderbens. In diesem Zustand verharrte er wochen- und monatelang. Alle Versuche, ihn zur Annahme des Heils zu bewegen, waren umsonst. Er entgegnete stets: „Es kann mir nichts mehr nützen.“ Er empfand keine Reue über seine begangenen Sünden, er kannte keine Buße, sondern nur ein schreckliches Warten des Gerichts. In diesem Zustand starb er.

Dies ist nur ein Fall aus vielen, die angeführt werden könnten, um die Gefahr des Aufschubs und des Widerstandes gegen den Heiligen Geist zu zeigen.

Kein zögernder Sünder kann wissen, wie nahe daran er ist, die Grenze zu überschreiten, die das Ende seiner Gnadenzeit bedeutet. Er mag kaum noch einen Schritt davon entfernt sein. Schon die nächste Übertretung oder die nächste Zurückweisung des angebotenen Heils mag für ihn verhängnisvoll werden. Die Menschen verharren in der Sünde und maßen sich an zu glauben, dass sie die Gnade annehmen könnten, wenn immer es ihnen beliebt. Aber Gott lässt sich nicht spotten. Wenn ihre Zeit gekommen ist, mag Gottes Zeit vorüber sein.

Lasst uns auch daran denken, dass es gar nicht nötig ist, sich irgendeiner besonders schweren Sünde schuldig zu machen, um diesen schrecklichen Wendepunkt herbeizuführen. Es genügt schon, den Einwirkungen des Heiligen Geistes zu widerstehen und sich zu weigern, seiner gnadenreichen Einladung Folge zu leisten, um ihn so zu betrüben, dass er von uns weicht und nie mehr zurückkehrt. Dass der Heilige Geist auf immer weicht, kann die Folge eines langen und anhaltenden Widerstandes gegen sein Wirken sein. Es kann aber auch die unmittelbare Folge eines einzigen vorsätzlichen Versuches sein, die Sündenüberzeugung von sich zu weisen.

Wenn der Sünder erwacht und seinen verlorenen Zustand einsieht, so beginnt er danach zu fragen, was er tun muss, um selig zu werden. Es wird ihm aufs Deutlichste gezeigt, was er zu tun hat, und er wird eindringlich ermahnt, seiner Pflicht ohne Zögern nachzukommen. Es gibt Zeiten, wo er fast überredet ist nachzugeben, und doch zögert er. Es ist noch immer eine Lieblingssünde da, die er nicht aufgeben, oder ein Kreuz, das er nicht auf sich nehmen will. Schließlich fasst er den schrecklichen Entschluss, die Sache auf gelegenere Zeit zu verschieben und sich jetzt nicht länger damit zu beschäftigen. Er fühlt sich nun beruhigt und es folgt eine Stille, die dem ewigen Gericht vorangeht. Gott ist von ihm gewichen und er geht nun mit raschen Schritten dem ewigen Verderben entgegen.

Oh, es ist etwas unbeschreiblich Schreckliches, wenn der Heilige Geist von einem Menschen gewichen ist! Die Gnadentür wird dadurch auf ewig verschlossen. Solcher Mensch mag plötzlich dahingerafft und vor den Richterstuhl Gottes gefordert werden. Auch wenn er noch längere Zeit lebt, so gleicht er einem verdorrten Baum, der seine laublosen Äste zum Himmel ausbreitet, nur um die göttlichen Blitze einzuladen, ihn in tausend Stücke zu zerschmettern.

Ich möchte allen Sündern, die geneigt sind, die Erlangung ihres Seelenheils aufzuschieben, mit den Worten von Doddridge zurufen: „Wenn du noch länger zögerst, so wird die Zeit kommen, wo du dieses Zögern bitter bereuen wirst. Entweder unter den schrecklichsten Seelenqualen hier oder in der ewigen Verdammnis, wo du deine Torheit verfluchen wirst! Ja, so schrecklich die Hölle auch ist, so wirst du doch wünschen, du wärest ihr lieber eher anheimgefallen, als die angebotene Gnade anhaltend verachtet und missbraucht zu haben, wodurch deine Schuld und Strafe so viel schrecklicher und unerträglicher geworden ist.“

Wenn der Sünder erweckt und von seinem Zustand überzeugt ist, befindet er sich in einem besonders kritischen Zustand. Der Gnadenruf, der an ihn ergangen ist, mag der letzte sein, den er jemals vernahm. Und je nachdem er diesen beachtet oder nicht, wird er sich das Heil sichern oder seine Schuld und Verdammnis vergrößern. Innerhalb weniger Stunden kann eine Wandlung in ihm vorgehen, die über sein ewiges Wohl oder Wehe entscheidet.

O hüte dich, mit den Bemühungen der göttlichen Liebe und Gnade scherzhaftes Spiel zu treiben! Der Heilige Geist beunruhigt dich nicht, um dich vor der Zeit zu quälen, sondern um dir deinen Zustand zu zeigen, damit du Buße tun und das Heil ergreifen mögest. Er verwundet nur, um zu heilen. Er deckt dein Elend und deinen sündhaften und verlorenen Zustand nur deshalb auf, um dich auf das einzige Mittel hinzuweisen, das davon befreit. Betrübe ihn nicht durch deinen Widerstand oder durch dein Zögern. Ergib dich gerade jetzt! Schenke der mahnenden Stimme des Geistes Gehör. Und Er, der dir deinen verlorenen Zustand zeigte, wird dann auch dein Tröster sein und dir den Weg zu Befreiung und zur Erlangung des Friedens weisen.