Erinnerungen aus meiner Studentenzeit

Eines der Haupthindernisse für mein Weiterkommen in der Schule war meine große Zurückhaltung und Schüchternheit. Ich  sah andere fähiger als mich an. Da ich auch nicht das Vorrecht hatte, vor meinen Oberschulstudien eine entsprechende Vorbereitungsschule zu besuchen, fiel mir manches schwerer als den anderen. Daher kam dann diese Einstellung. Gegen jedes Amt, das mir anvertraut werden sollte, überhaupt gegen jede neue Verantwortung, die ich übernehmen sollte, hatte ich eine gewisse Abneigung. Wurde ich bei irgendeiner Wahl vorgeschlagen, wählte ich stets den anderen Anwärter, konnte es dann aber oft doch nicht vermeiden, dass ich gewählt wurde. Die in solch kleinen oder größeren Ämtern gemachten Erfahrungen haben mein Verantwortungsgefühl gestärkt.

So wurde ich z. B. gleich in der ersten Woche meiner Ankunft im Seminar zum Aufsichtsschüler und Türhüter in zwei literarischen Kursen gewählt. Für manchen hätte dies keine Bedeutung, aber für einen unerfahrenen, zurückhaltenden und schüchternen Bauernjungen, wie ich einer war, bedeutete es schon etwas, in einem fremden Kreis Pflichten zu übernehmen. Eines Abends war der Hörerkreis sehr klein. Alle Neuankommenden schienen es sich vorgenommen zu haben, nur auf einer Seite des Vortragssaales zu sitzen, so dass auf der anderen Seite alle Stühle leer blieben. Dann erschien mein Vetter. Er war noch ein sehr junger Schüler. Ich gab ihm zu verstehen, dass er mir folgen solle, damit ich ihm einen geeigneten Platz besorgen könne. Bald saß er jenseits der anderen zwischen den leeren Stühlen, um, wie ich hoffte, Neuankommende zu veranlassen, dort Platz zu nehmen. Leider erschien niemand mehr und mein Vetter saß als Einziger auf dieser Seite. Schon warfen einige freche Burschen Papierstopfen nach ihm und Namen wie „Ehrengast“ u. a. schwirrten durch den Raum. Dann erschien noch ein Hörer. Mit Krücke und Stock hinkte er zum Stuhl des Türhüters, der mir gehörte. Als ich ihm einen anderen anbot, dankte er und sprach: „Dieser ist gut genug für mich.“ Darüber entstand einige Unruhe und auch mich verwirrte das Gebahren dieses Mannes. Nun hatte die Übungsstunde schon begonnen. Ich schlich aus dem Hörsaal, ging auf mein Zimmer und wünschte, nie wieder an diesem Kursus teilnehmen zu müssen. Doch wich meine Beschämung bald und das nächste Mal war ich wieder auf dem Posten.

Im nächsten Jahr meiner Universitätszeit wirkte ich bei einem Schulfest am Semesterabschluss mit. Zum ersten Mal gelang es mir, vor einer größeren Zuhörerschaft unbefangen aufzutreten – vielleicht deshalb, weil ich wusste, dass mich in meiner Verkleidung selbst meine besten Freunde nicht erkennen konnten. Am Ende dieser Feier begaben sich die Mitglieder unserer literarischen Arbeitsgemeinschaft in den Vortragssaal. Eins der Mitglieder, dessen Bekanntschaft ich vor kurzem gemacht hatte, bestand darauf, dass auch ich mitging. Ich saß in einer Ecke und wartete der Dinge, die kommen sollten. Nachdem der Vorsteher einige sachliche Bemerkungen gemacht hatte, ging man dazu über, die einzelnen Ämter neu zu besetzen. Als die Neuordnung bis auf den ersten und zweiten Marschall, deren Pflicht es war, als Ordner und Türhüter zu amtieren, beendet war, erhob sich mein Bekannter und kündigte an, dass er noch einiges zu sagen hätte. Er war einer der besten Redner der Schule und führte in einer glänzenden Ansprache von etwa 20 Minuten einiges von den Erfahrungen und Schwierigkeiten der Gemeinschaft im vergangenen Semester an. Unter anderem führte er aus:

„Im letzten Jahr hatten wir 400 Mitglieder und erfreuten uns auch des übrigen Studentenkreises. Nun aber ist unser Kreis beinahe aufgelöst. Die Ursache dieses Zurückgehens ist auf die Machenschaften neun junger Männer aus einem anderen Stadtviertel zurückzuführen. Es scheint, dass diese Menschen Widersacher einiger unserer Studenten wurden, die in diesem Stadtviertel verkehren, weil sich durch diesen Verkehr einige Damen aus dem Kreis jener jungen Männer bewogen fühlten, unsere Vereinigung aufzusuchen. Trotz einiger ernster Zwischenfälle, die sich daraus ergaben, hielten die Besuche der Mädchen an. Die erbosten jungen Männer schmiedeten nun ein Komplott, nicht nur gegen einzelne Studenten, sondern gegen unsere gesamte Gemeinschaft, mit dem Vorsatz, sie zu sprengen. Abend für Abend ist es ihnen gelungen, Störungen zu verursachen. Die Ordner waren außerstande, die Gesellen in Schach zu halten, und obwohl die Polizei eingriff, gelang es nicht, diese Störungen auf Dauer zu beseitigen. Ein offener Aufruhr und die Unterbrechung unserer Zusammenkünfte war das Ende.“ Der Redner empfahl dann, das Amt des ersten Ordners einem besonders fähigen Mann anzuvertrauen, der nicht nur die Mitglieder jenes Komplotts in Schach halten könne, sondern auch imstande wäre, jede Störung zu beseitigen. Auf mich zeigend, rief er aus: „Jener ist meines Erachtens der geeignete Mann!“ Tief drückte ich mich auf meinem Stuhl zusammen, waren doch aller Augen auf mich gerichtet, als man Beifall klatschte. Einstimmige Wahl folgte dann. Rätselhaft war es mir, warum man gerade mich wählte, war es doch meine Art, mich still zurückzuhalten.

Zu meiner Unterstützung wurden nun noch 20 tapfere Leute ausgesucht und ich versprach, meine Pflicht zu tun. Manches hatte ich während meiner früheren Schulzeit gelernt und mein Wunsch war, immer mein Bestes zu tun. Hier bot sich eine gute Gelegenheit. Selbstverständlich betete ich an jenem Abend ernst zu meinem Gott um Geschicklichkeit und Kraft für mein Amt in der nächsten Woche. Als der Abend der ersten Sitzung herangekommen war, befand ich mich auf meinem Posten. Ehe sich der Saal halb gefüllt hatte, waren unsere Widersacher auch schon in voller Stärke zugegen, bereit, ihr übles Geschäft zu treiben. Zwei saßen ungefähr in der Saalmitte allein in einer Stuhlreihe. Durch Ausstrecken ihrer Arme nahmen sie die ganze Reihe von neun Sitzen ein. Zwei andere hatten sich am Eingang postiert, während weitere fünf in einer Saalecke standen. So waren sie imstande, von möglichst vielen Seiten ihre Störungen zu betreiben. Ich führte gerade mehrere Herren mit ihren Damen den Mittelgang entlang, als ich die beiden Männer in der Stuhlreihe in ihrer herausfordernden Stellung sah. Höflich bat ich sie, doch aufzurücken. Außer einem flegelhaften Rekeln auf ihren Sitzen fiel es keinem ein, meiner Bitte Folge zu leisten. Mit gedämpfter Stimme sagte ich zu ihnen: „Ich werde schon auf euch achten, wenn ich zurückkomme“, und wies dann den Besuchern andere Plätze an. Die fünf in der Ecke, welche meine scheinbare Niederlage mitangesehen hatten und meine Entgegnung nicht hören konnten, lachten schadenfroh, während meine 20 Helfer jede Bewegung der Burschen beobachteten und nur auf ein Signal meinerseits warteten.

Ich wusste: Nur ein Zeichen von mir würde nun einen fürchterlichen Tumult verursachen, doch gerade dies wollte ich vermeiden. Ein Gefühl der Kaltmütigkeit und Selbstbeherrschung kam über mich. Alle Furcht war dahin und ich fühlte mich als Herr der Lage. Lächelnd ging ich durch den Mittelgang zurück, erreichte wiederum die zwei in der leeren Stuhlreihe und bat sie nochmals in aller Freundlichkeit, doch aufzurücken. Noch zögerten sie. Von Empörung überwältigt, griff ich nach dem Rockkragen eines von ihnen, um ihn einfach hinüberzuschieben. Ich verfehlte jedoch mein Ziel, denn beide rückten schon zum Ende der Reihe. Ich ging hinter ihnen her. An der Wand angelangt, dankte ich lächelnd für die Gewährung meiner Bitte und bat sie, sich ja ruhig zu verhalten. Dies alles spielte sich so schnell ab, dass nur einige Personen außer mir, den neun und meinen Helfern etwas merkten. Jetzt ging ich zu den fünf in der Saalecke und bot ihnen Plätze an. Lachend lehnten sie ab. Auf meine Bemerkung hin, dass keine Störung geduldet würde, lachten sie nur und begannen schon, laut zu reden. Fest legte ich jetzt dem Anführer meine Hand auf die Schulter, schaute ihm ruhig in die Augen und sagt dann: „Haben Sie verstanden, was ich sagte?“ Ohne Aufregung teilte ich ihnen dann mit, dass sie sofort den Saal zu räumen hätten, wenn sie sich weigerten, Platz zu nehmen. Die Wirkung blieb nicht aus, denn zwei setzten sich und die anderen verließen ruhig den Saal. Dies war der letzte Störungsversuch unserer Gegner.

Später wurde ich damit beauftragt, zu den am Abend stattfindenden Zusammenkünften ein kritisches Protokoll über den durchgenommenen Stoff zu verfassen und am Schluss vorzulesen. Mit Besorgnis sah ich dem ersten Vortragsabend entgegen, wusste ich doch, dass sich unter den Teilnehmern Lehrer und frühere Absolventen der Schule befanden. Nachdem an dem betreffenden Abend die einzelnen Vorträge und Erörterungen beendet waren, wurde für 15 Minuten eine Pause gemacht. Danach kamen alle wieder zusammen, um das kritische Protokoll zu hören. Ich nahm allen Mut zusammen, um meine Pflicht so gut ich konnte zu erfüllen. Ernst hatte ich vorher gebetet und als der Augenblick kam, wo ich mich erheben musste, nahm mich noch Furcht gefangen. Mein Kopf war jedoch klar und sehr rasch stellte ich fest, dass ich genügend Selbstbeherrschung besaß und imstande war, Lob und Tadel in der rechten Weise auszudrücken.

Mein letztes Amt an jener Schule war das des Vorstehers der Vereinigten Literarischen Gesellschaft, die aus Mitgliedern der Musikklasse sowie der Klasse für Rede- und Vortragskunst bestand. An der Otterbein Universität war ich stellvertretender Vorsteher der Literaturvereinigung. Am Ende jenes Schuljahres plante ich zunächst die Teilnahme an einer Lagerversammlung in Michigan. Dann wollte ich einen Monat in der Moody-Sommerschule in Northfield, Massachusetts, zubringen. Mein Wunsch war es, dann noch einige der östlichen Städte aufzusuchen. Nach der darauffolgenden Seereise wollte ich zur Universität zurück, um noch zwei weitere Jahre dem literarischen Studium zu widmen. Später wollte ich das theologische Seminar in Danton, Ohio, besuchen.