6. Das beste Erbteil in Kanaan

Frage: Ich bin über meine Heiligung beunruhigt. Meine Bekehrung war so klar und brachte eine solche Umwandlung in mir zustande, dass ich daran nie zweifelte. Aber als ich geheiligt wurde, fand keine so große Veränderung statt. Jedenfalls war sie nicht so groß, wie bei manchen anderen, die ich davon zeugen hörte. Ich fühle mich weder so kühn wie einige, die ich reden hörte, noch empfand ich das „mit Christus gekreuzigt sein“ in dem Maß, wie manche es bezeugten. Und wirklich, wenn ich meine Heiligung mit dem vergleiche, was andere über ihre sagen, so gerate ich in Unruhe. Oft habe ich meine Heiligung verworfen und mich bemüht, eine Erfahrung wie andere zu machen. Aber wie es scheint, will es mir nicht gelingen. Muss ich nun mein Bestes versuchen, um eine andere Erfahrung zu bekommen, oder muss ich mit der, die ich habe, zufrieden sein? Ich würde es sehr schätzen, wenn ihr mir in diesem Punkt Aufschluss geben könntet.

Antwort: Angenommen, wir würden heute Morgen nach Bethlehem gehen. Dort wohnt ein Bruder Treu, dessen Bekanntschaft du bestimmt schätzen wirst. Er wohnt schon einige Jahre in Kanaan und kann uns ohne Zweifel interessante Erinnerungen aus seinem Leben erzählen.

Bethlehem ist ein berühmter Ort. Irgendwo in der Nähe von hier tötete David einen Löwen und einen Bären und komponierte einige seiner unübertrefflichen Lobpsalmen. Auf jenem Felde da drüben las Ruth Ähren bei Boas, und ihre moralische Reinheit gewann die Herzen aller.

Hier ist Bruder Treu’s Haus. Lass uns anklopfen und eintreten.

– Bruder Treu, wie hat es sich zugetragen, dass du zu solch einem prächtigen Heim in Kanaan gekommen bist?

– Nun, liebe Pilger, das hat sich nicht so einfach zugetragen; vielmehr habe ich alles Mögliche getan, um in Bethel oder auf Morija ein Heim zu bekommen. Jene Orte schienen mir besser als dieser zu sein, – wenigstens eine Zeit lang – bis ich einsah, dass der Herr mich gerade hier haben will. Bethel liegt nahe am Ort, wo die Stiftshütte aufgeschlagen wurde, und erinnert an die Himmelsleiter, darauf die heiligen Engel auf- und niederstiegen. Von allen Orten schien mir Bethel dem Himmel am nächsten zu sein; aber ich habe festgestellt, dass Bethel nicht der einzige Ort ist, den eine Leiter mit dem Himmel verbindet.

Der Grund, warum ich auf Morija haltmachen wollte, war, dass mir Bruder Gute-Träume, der dort wohnt, bemerkenswerte Erfahrungen erzählte, die er dort machte. Ich meinte dann, es gebe in Kanaan keinen Ort wie diesen, und überlegte mir gar nicht, dass nicht alle von uns an ein und demselben Ort wohnen können. Bruder Gute-Träume erzählte wunderbare Geschichten von Engeln, von heiligen Offenbarungen und himmlischen Erleuchtungen, die sich an diesem heiligen Platz ständig ereigneten. Darauf vergaß ich ganz und gar den Herrn zu fragen, wo Er mich haben will, und brach sogleich nach Morija auf. Aber ich wurde in jeder Beziehung enttäuscht. Besonders enttäuschte mich, dass zu jener Zeit auf Morija für mich gar kein Platz zu finden war. Bruder Gute-Träume hatte einen schrecklichen Kampf mit den Riesen zu bestehen, ehe er für sich dort ein Heim gewann, und ich bin mir nicht sicher, ob ich sie erfolgreich hätte bekämpfen können.

Danach fiel ich mit Bruder Anbetend herein, der in Bethel wohnt. Nachdem er mir von den guten Dingen dort erzählt hatte, entschloss ich mich, Bethel als meinen Wohnort zu wählen. Aber ich kam in dieser Richtung gar nicht voran.

Nachdem ich nun einige Zeit in Kanaan war und noch ohne festen Wohnsitz, fing ich an, den Herrn zu fragen, wo Er mich haben will. Es wurde mir vollkommen klar, dass Gott einen Platz für mich ersehen hat, der für mich der beste ist. Ich glaubte dieser Wahrheit von ganzem Herzen, und dies gab mir großen Mut. Ich zog die Rüstung an, brachte den Schild des Glaubens in Ordnung, ergriff das Schwert des Geistes (Eph. 6:10-17) und ging, wohin ich geleitet wurde: nach Bethlehem, einem Ort, den ich als völlig minderwertig erachtet hatte. Nach einigen Kämpfen gewann ich. Und ich bin zufrieden.

 

Die Heiligung ist ein Werk Gottes, gewirkt durch das Blut Christi und den Heiligen Geist. Sie schließt sowohl eine Reinigung von der angeborenen Sünde, als auch eine Erfüllung mit Gerechtigkeit in sich. Sie nimmt etwas weg und fügt etwas hinzu. Nicht, dass die angeborene Sünde etwas wie eine Art Wurzel oder Keim wäre – sie ist ein Übel, das unsre Natur durchdringt. Dieses Übel wird in der Heiligung zerstört, und seine Wirkungen werden verbannt. Der Heilige Geist kommt herein und erfüllt die Natur des Menschen mit Gerechtigkeit und Reinheit. Du musst deinen Sinn auf das wirkliche Werk der Heiligung richten, nicht auf einige ihrer besonderen Kundgebungen in der Erfahrung mancher Leute. Die Kundgebungen der Heiligung mögen für manche Leute bestimmter sein als für andere, und zwar einfach deswegen, weil die einen dies nötiger haben als die anderen.

Es ist auch möglich, dass deine Bekehrung in deiner Seele und deinem Leben eine in größerem Maße wahrnehmbare Veränderung hervorrief als deine Heiligung. Die Art der Veränderung hängt zum großen Teil von den Umständen ab. Warst du sehr tief von deinen Sünden überzeugt und bei der Bekehrung sehr glücklich, so mag dir deine Bekehrung größer erscheinen als deine Heiligung. Aber diese äußere Dinge sind nicht von besonderer Wichtigkeit.

Ferner musst du beachten, dass Heiligung, während sie in sich selbst etwas Besonderes und Bestimmtes ist, doch nur der zweite Schritt in einem bereits angefangenen Werk ist. Die Rechtfertigung ist für die Heiligung wesentlich und ist der Anfang und die Grundlage der vollen Erlösung.

Während einer Zeltversammlung erzählte einmal ein Prediger von der herrlichen Erfahrung, die er hatte, als er geheiligt wurde. Er sprach besonders vom Mut; denn er war durch die Heiligung sehr mutig geworden.

Als die Einladung nach vor zu kommen, gegeben wurde, kam eine alte Schwester vor. Ein Prediger fragte sie, wonach sie suche. Mit Tränen in den Augen erwiderte sie: – Ich glaubte, ich sei geheiligt gewesen; aber seit Bruder A. von dem Mut zeugte, die er empfing, zweifle ich, ob ich je geheiligt war. Ich habe das nicht empfunden.

Der Prediger führte sie sorgfältig von allen Vergleichen zwischen ihrer Erfahrung und den Erfahrungen anderer hinweg und fragte sie, ob sie jetzt dem Herrn geweiht sei.

– O ja, gerade so geweiht und übergeben, wie ich es meines Wissens nach sein muss! – antwortete sie weinend.

– Nun, wenn jemand ganz geweiht ist, was tut dann der Herr mit dem, der sich Ihm völlig ausgeliefert hat?

– Er heiligt ihn völlig, – musste sie antworten.

– Und wenn du nicht soviel Mut besitzest wie Bruder A., so hast du ihn wahrscheinlich nicht nötig. Oder wenn du wirklich mehr brauchst, wäre es dann nicht besser, Gott um mehr zu bitten, anstatt deine Erfahrung der Heiligung aufzugeben, nur der nichtigen Anstrengung wegen, ebenso zu empfinden wie jemand anders empfindet?

Sie sah ihren Fehler, und ihre Tränen verschwanden im freudigen Lächeln.

Es gibt noch einen anderen Umstand, den du beachten solltest. Oft sind die, die so schön und anschaulich von ihrer Heiligung zeugen, davon begeistert, und die Segnung wird in den prächtigsten Farben ausgemalt. Die Versuchungen und Entmutigungen sind vergessen, und an die Kämpfe, die es gab, um den Sieg zu behalten, denken die Betreffenden in dem Moment nicht, und hoch preisen sie das Werk, das Gott an ihnen tat. In der Freude des Augenblicks vergrößern sie das Werk. Wir sagen nicht, dass sie ihre Erfahrung übertreiben; denn, wahrlich, keine Zunge kann sie beschreiben. Doch während sie mit brennendem Eifer Gott preisen, gehst du vielleicht gerade durch eine Prüfung. Natürlich scheint dann die Erfahrung der anderen die deine zu übertreffen. Aber bedenke, die Zeit mag kommen, wo du ein Zeugnis ablegen wirst, wie sie es jetzt tun. Und sie mögen durch eine Prüfung gehen. Dann mögen sie ihre Erfahrung vielleicht mit deiner vergleichen und das Gefühl haben, als kämen sie zu kurz. Darum stelle keine Vergleiche mehr an. Lebe ganz für Jesus. Gibt Er jemandem eine scheinbar bessere Erfahrung – überlasse es Ihm. Was geht es dich an? Folge du Jesus!