Wie alles begann...

Es war ein heller Sonntagmorgen im Spätsommer. Der Lärm des Werktags hatte sich gelegt und auf allem schien eine friedvolle Stille zu ruhen. Der blaue Himmel und das ringsum üppig wachsende Grün, das die Sonne mit ihren goldenen Strahlen beleuchtete, ergaben ein Bild der Ruhe und Gelassenheit. Die Natur ruhte in Frieden.

Doch das Herz von Howard Gray berührte dies alles nicht. Er stand am Außentor seines Landhauses und seine Augen waren in gedankenvollem und ernstem Sinnen zum Boden gerichtet. Er schien sehr verwirrt zu sein. Howard war gerade in dem Alter, wo die Lebenserfahrung beginnt, den Schleier der Zukunft zu lüften und einige ernste Schwierigkeiten des Lebens zu offenbaren. Sein neunzehnter Sommer ging schnell vorüber. Dieses Jahr hatte ihm neue Erfahrungen eingebracht, neue Hoffnungen und neue Wünsche in ihm geweckt. Auch versetzte es ihn in neue Verhältnisse. Den großartigen Gedanken und Träumen der Jugend stand jetzt die harte Wirklichkeit gegenüber. Und Howard stellte fest, dass Träumen leichter ist, als die Umsetzung dieser Träume in die Tat. Er lernte etwas, was alle lernen müssen: Das Leben ist nicht so einfach, wie man es sich in jugendlichen Träumen vorgestellt hat. Auch merkte er, dass wohl bedachte Pläne oft auf unerwartete Hindernisse stoßen, und dass das Leben zum großen Teil daraus besteht, Hindernisse zu überwinden oder von ihnen überwunden und gehemmt zu werden.

Howard war ein ernster, nachdenklicher junger Mann, der über eine Sache gerne gründlich nachdachte. Gewöhnlich war er gut gelaunt und voller Energie. Unter seinen Kameraden galt er als heiter und fröhlich. Doch unter dieser äußerlichen Fröhlichkeit verbarg sich tiefe und ernste Nachdenklichkeit. Und an diesem Morgen hatte er genug Ursachen, um ernstlich nachzudenken.

Als er so am Tor stand, hörte er, wie in der Ferne die Kirchenglocke weich und zart tönte und die Gläubigen zur Sonntagsschule und zur Kirche rief. Gewöhnlich folgte er diesem Ruf, weil er in seiner Seele eine tiefe Ehrfurcht vor Gott und seinem Dienst hatte. Aber heute wollte er nicht unter vielen Menschen sein und wünschte, mit seinen Gedanken allein zu bleiben. Er ging die Straße entlang, kletterte dann über den Zaun und betrat den großen Wald, der von seinem Heim nicht weit entfernt lag. Howard ging weit in den Wald hinein, so dass ihn niemand von der Straße aus sehen konnte. Dann setzte er sich auf einen gefallenen Baumstamm und versank in tiefes Nachdenken. Gewöhnlich wurde er sehr lebhaft, wenn er im Wald eine Bewegung sah oder ein Geräusch hörte. Er beobachtete stets die Eichhörnchen in ihrem Spiel und lauschte dem Gesang der Vögel wie auf Stimmen seiner Freunde. Er liebte den Wald und kannte alle seine Geräusche, denn die Waldbewohner waren seine Freunde. Aber heute vergaß er alles um sich herum. Ein Eichhörnchen sprang über ihm auf einen nahestehenden Baum, aber er schaute nicht auf. Der prächtige und herrliche Sommermorgen beeindruckte ihn nicht, weil auf seinem Herzen eine schwere Bürde lag.

An diesem Morgen wollte Howard eine Lösung für sein Problem finden. Er war innerlich unzufrieden und fragte sich nun, als er in der Einsamkeit war: „Warum bin ich in meinem Gottdienen nicht glücklicher? Warum ist in meinem Herzen solch eine Unzufriedenheit?“ Er erinnerte sich, wie er vor ein paar Monaten an einem Sonntagmorgen durch den Mittelgang der Kirche nach vorne ging und feierlich die Verpflichtungen eines Gemeindemitglieds auf sich nahm.

Doch das war nicht der Anfang seines Suchens nach Gott. Als er so mit niedergeschlagenen Augen dasaß, gingen seine Gedanken in seine Jugendzeit zurück und er erinnerte sich, wie er auf dem Schoß der Mutter saß und sie ihn über den Unterschied zwischen Gut und Böse belehrte. Die Stimme seiner Mutter, die ihm Geschichten aus dem guten alten Buch erzählte, klang noch jetzt in seinen Ohren. Howard dachte daran, wie sorgfältig und ernst seine Eltern ihn belehrten und anleiteten. Er erinnerte sich auch daran, wie seine geliebte Mutter auf dem Sterbebett lag und ihn zu sich rief, um ihm das letzte Lebewohl zu sagen. Dieses Bild stand so lebendig vor ihm, als ob es erst gestern geschah. Er sah sich als Kind an ihrem Bett kniend. Die Mutter legte ihre Hand auf seinen Kopf und sagte: „Howard, sei ein guter Junge. Ich warte auf dich im Himmel“. Diese Worte gingen ihm all die Jahre nach. Wenn er versucht wurde, mit seinen Kameraden etwas Böses zu tun, hörte er in seiner Seele immer wieder diese Worte: „Howard, sei ein guter Junge. Ich warte auf dich im Himmel“. Das hat ihn von vielem zurückgehalten. Und als er sich an diesem Morgen an seine abgeschiedene Mutter erinnerte, dachte er: „O, wenn sie noch lebte, würde sie mich belehren, und ich würde jetzt nicht so verwirrt sein“.

Howard überflog in Gedanken die vergangenen Jahre. So manches, was er getan hatte, erfüllte ihn mit Bedauern. Nein, er hatte nicht so gelebt, wie er es wünschte, denn in der Vergangenheit gab es viele Dinge, auf die er nicht mit Zufriedenheit zurückblicken konnte. Und doch wollte er immer das Rechte tun. Während der letzten paar Jahre machte er es sich zur Gewohnheit, abends an seinem Bett die Knie im verborgenen Gebet zu beugen. Er wollte ein Christ sein, ein echter Christ, doch irgendwie schien ihm das zu fehlen, wonach sich seine Seele sehnte. Er versuchte, ein Christ im Verborgenen zu sein, stellte jedoch fest, dass solch ein Leben ihn nicht befriedigte. Das Gefühl, dass er ein Feigling sei, überwältigte ihn öfters.

Howard empfand oft, dass er mutig auftreten und eine Stellung für Christus einnehmen sollte. Allerdings zögerte er damit, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen empfand er, dass er im Herzen nicht das hatte, wonach er sich sehnte. Trotz seiner Entschlüsse sah er sich immer wieder besiegt. Wenn die Versuchung kam, fühlte er sich ganz schwach. So konnte er nicht mutig auftreten und sich als Christ bekennen, wenn er an seinen Lebenswandel dachte. Das andere, was Howard zurückhielt, war seine angeborene Schüchternheit. Er war sehr empfindsam, stets scheu und zurückhaltend und erbebte bei dem Gedanken, öffentlich zu beten oder Christus vor Menschen zu bekennen. Er dachte an die Zeit vor zwei oder drei Jahren, als er an einem Evangelisationsgottesdienst teilnahm, der in der Kirche, wo er gewöhnlich hinging, abgehalten wurde. Sein Herz sehnte sich nach Erlösung und nach der Gewissheit der Sündenvergebung. So stand er damals hinten in der überfüllten Kirche und sah, wie Gemeindemitglieder kamen und mit anderen, die neben ihm standen, sprachen und sie einluden, nach vorne zu kommen, damit für sie gebetet werde. Ihm fehlte der Mut, um ohne Einladung nach vorne zu gehen, und er wünschte, dass jemand auch ihn einladen würde. Das hätte die Sache einfacher gemacht. Aber keiner sagte ihm etwas. Man ging an ihm vorbei und lud andere ein. So hielt ihn seine Schüchternheit ab, den Herrn zu suchen.

Ungeachtet dessen hinterließen diese Gottesdienste einen Eindruck in Howards Herzen. Er hatte noch immer den Wunsch, ein Christ zu sein. Wenn er jedoch auf die Zeit zurückblickte, da er versuchte ein Christ zu sein, ohne Christus öffentlich zu bekennen, fand er darin wenig Befriedigendes. Ein Fehlschlag folgte dem anderen. Er war niemals im Stande so zu leben, wie es ihm bewusst war, dass ein Christ leben sollte. Er versuchte es eifrig, merkte aber, dass er es mit eigener Kraft tat, denn er war sich der göttlichen Hilfe nicht bewusst. Howard konnte zwar die göttliche Vorsehung in seinem Leben oft erkennen, empfand jedoch gleichzeitig, dass ihm etwas Notwendiges noch fehlte. Vor ein paar Monaten kam er für eine kurze Zeit in Berührung mit einigen ernsten Christen. In ihrem Leben gab es etwas, das ihm fehlte und wonach er sich sehnte. Durch den Einfluss dieser Christen schloss er sich einer Gemeinde an und nahm nun seit ein paar Monaten an ihren Gottesdiensten teil. Er tat es mit Furcht und Zittern; doch der Erfolg, den er von seinem Beitritt zur Gemeinde erwartete, trat nicht ein. Ihm war bewusst, dass die Sünde in seinem Leben immer noch herrschte.

Allerdings ging es im Leben mancher Gemeindemitglieder jedenfalls nicht anders zu als bei ihm. Und als Howard an diesem Morgen an den Lebenswandel einiger gut bekannter Gemeindemitglieder dachte, kam in ihm die Frage auf: „Was ist der Unterschied zwischen ihnen und den Kirchengängern, die keine Mitglieder sind und auch nicht bekennen, Christen zu sein?“ Er kannte ihren Lebenswandel. Für einige von ihnen arbeitete er, mit manchen machte er Geschäfte, bei vielen war er in ihrem Hause. Kurz, er nahm teil an ihrem gesellschaftlichen und geschäftlichen Leben. Oft konnte er Gedanken und Gefühle, die sich in ihrem Gesicht widerspiegelten, lesen. Aus den Zeugnissen mancher dieser Gemeindemitglieder vernahm er, dass sie eine ‚schwere Aufgabe‘, ‚viele Höhen und Tiefen‘ im Leben und ‚viele Mängel‘ hätten. Das zu glauben, fiel ihm nicht schwer. Solches erfuhr er ja auch in seinem Leben und konnte es deshalb gut verstehen. Doch in welcher Hinsicht waren er und sie anders als solche, die nicht bekannten, Christen zu sein?

Howard dachte an einen Nachbarn, für den er oft gearbeitet hatte. Er wusste aus Erfahrung, dass dieser Mann nicht immer ehrlich war. Auch sah er, wie dieser seine Mitmenschen grausam behandelte und damit seinen Charakter zeigte, der alles andere als christlich war. Dann verglich er ihn mit dem Nachbarn, der gegenüber wohnte. Dieser bekannte sich zu keiner Religion und war ein Weltmensch. Aber Howard musste zugeben, dass dieser Mann ein viel besserer Nachbar war, als der andere, der nicht nur ein Gemeindemitglied, sondern auch ein Mitglied des Gemeinderats und ein Diakon war. Als Howard den Wandel noch weiterer Gemeindemitglieder mit Nichtmitgliedern verglich, wurde sein Herz schwer. „Sind wir besser als sie?“, rief er aus. „Hat wohl unser Christentum in uns wirklich etwas verändert?“ Howard wusste, dass er nun eifriger als vor seinem Beitritt zur Gemeinde versuchte, gerecht zu leben. Auch merkte er, dass das Gefühl der Verantwortung der Gemeinde und den Gliedern gegenüber ihn vor manchen seinen alten Sünden bewahrte. Trotzdem war er sich bewusst, dass er oft weder seinen Idealen nachstrebte, noch nach dem Maßstab des praktischen Christentums lebte, der ihm auf seiner Mutter Schoß eingeprägt wurde. Seine Mutter und sein Vater lebten nach diesem Maßstab, das wusste er. Unwillkürlich stellte er seine Fehlschläge und die vor ihm stehenden Beispiele einander gegenüber. Er war mit seinem Lebenswandel unzufrieden, gänzlich unzufrieden.

Während Howard in der Einsamkeit und tiefem Nachdenken dasaß, erinnerte er sich auch an manches, was gepredigt wurde, und dachte an den bekannten Text: „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.“ Dann erinnerte er sich an die Stelle, wo Apostel Paulus sagt: „Ich elender Mensch!“

 „Ich nehme an“, seufzte er, „dass dies wahrscheinlich das Beste ist, worauf wir hoffen können. Ich kann so gut sein, wie die meisten Mitglieder unserer Gemeinde es sind, und denke, dass ich es eigentlich auch bin. Doch schildert die Bibel das Leben eines Christen auch wirklich so? Müssen unsere Seelen für immer unbefriedigt bleiben? Müssen wir in unseren Erwartungen immer wieder enttäuscht werden? Gibt es keinen erreichbaren Stand, wo die Seele Frieden haben kann? Man sagt, dass solch eine Erfahrung in diesem Leben nicht gemacht werden kann, und ich nehme an, dass dies stimmt. Ach, mein Herz sehnt sich aber doch nach etwas anderem! Nun, ich denke, dass wir uns damit abfinden sollten. Vielleicht wird es im Himmel anders sein. Natürlich wird es dort anders sein. Die Menschen im Himmel sind glücklich – doch warum können sie es nicht schon auf dieser Erde sein? Warum befriedigt das Christentum nicht wirklich? Warum muss ich mir immer dessen bewusst sein, dass ich nicht das bin, was ich sein sollte? Doch es scheint, dass viele andere gerade so dran sind, wie ich. Ich denke, dass ich auf nichts Besseres hoffen kann.“

Nun gingen Howards Gedanken plötzlich zurück zu der Zeit vor zwei oder drei Jahren und er dachte an seine Schullehrerin, Frau Burns. Ja, sie war anders. In ihrem Leben war etwas, dass auf ihn einen tiefen Eindruck machte. In Frau Burns war etwas Freundliches, Ruhiges und Friedliches, das ihm ihre Gegenwart angenehm machte. Es schien, dass sie in ihrem Leben eine verborgene Quelle der Freude hatte. Sie unterschied sich von den anderen, weil in ihr etwas war, dass er in anderen nicht sah. Er liebte und achtete sie als Lehrerin und war von ihrem edlen christlichen Charakter tief beeindruckt.

Howard dachte auch an Herr Peters, der vor einigen Jahren sein Sonntagschullehrer war und nun in einer weit entfernten Stadt wohnte. „Ja“, dachte er, „er hatte das Gleiche, was auch Frau Burns hatte. Ich weiß nicht, was es ist und wie man es bekommt, aber ich möchte es sehr gerne haben. Doch wahrscheinlich ist es nicht jedermanns Sache. Es sieht so aus, als ob es Leute gebe, die anders sind als die meisten. Sie scheinen von Natur aus oder sonst irgendwie besser zu sein. Wenn ich so wäre wie sie, dann glaube ich, dass ich glücklich wäre. Doch nun bin ich noch unglücklicher als damals, wo ich nicht versuchte, ein Christ zu sein. Ich weiß nicht, was ich noch tun sollte.“

So saß Howard lange, versunken in tiefes Nachdenken. Er erinnerte sich, wie er in Predigten öfters hörte, dass man wiedergeboren werden müsse. Auch hörte er andere erzählen, wie sie sich bekehrten und wie glücklich sie in dieser herrlichen Zeit waren. Was bedeutet es denn, wiedergeboren zu werden? Was meint es, sich zu bekehren? Howard konnte sich nicht erinnern, dass so etwas je in seinem Leben stattfand. Er wollte ein Christ sein, er versuchte es; auch war er ein Gemeindemitglied. Was konnte er mehr tun? Wiedergeburt war für ihn ein großes Geheimnis, dem er hilflos gegenüber stand. Wie können die Menschen wiedergeboren werden? Er hatte einfach keine Ahnung davon. Wenn es für ihn möglich wäre, würde er diese Erfahrung gerne machen. „Ich habe schon so viele Predigten gehört“, rief er aus, „und jetzt scheint es, dass ich über den Glauben nicht mehr Gewisses weiß, als eine Katze über Trigonometrie. Natürlich kann ich zwischen Gut und Böse unterscheiden; ich weiß, wie man Böses tut und denke, dass dies leicht genug ist. Doch was ich am meisten wissen will, nämlich wie man das Rechte tut, weiß ich überhaupt nicht. Wo Paulus schreibt, ‚dass mir, der ich das Gute tun will, das Böse anhängt‘, da redet er gewiss auch von meiner Erfahrung. Sicherlich bin ich nicht eine der auserwählten Seelen, die, wie es scheint, alles recht machen und von Natur aus gut sind. Das Beste was ich tun kann, ist, glaube ich, weiterhin mein Möglichstes tun. Ich denke, dass ich dann genau so lebe, wie die meisten unserer Gemeindemitglieder. Und wenn sie durchkommen, dann werde ich es wohl auch schaffen; das nehme ich zumindest an.“

Howard versuchte, sich mit diesen Gedanken zu trösten; doch als er heimging, war sein Herzen immer noch so unbefriedigt, wie bisher. In den folgenden Tagen versuchte er, sich so gut es ging zu trösten, und handelte so, wie es ihm richtig erschien. Doch dies konnte weder seine Seele befriedigen, noch sein inniges Sehnen stillen. So lebte er weiter, bis etwas geschah, das ihn wieder beunruhigte.