Rächet euch selber nicht

Spät am Abend des folgenden Tages saß die Försterfamilie am Tisch beisammen. Man sprach von Martin Brendel. Noch konnte man seine Rückkunft nicht erwarten, weil ihm im günstigsten Falle drei Tage und die zwei dazwischen liegenden Nächte für Wanderung und Aufenthalt zugegeben werden mussten. Wilgart war nicht ohne Sorgen und wünschte, der Bursche wäre schon zurück; auch Dorothea hatte einen ähnlichen Wunsch. Die Mutter aber sagte: „So sehr ich das auch wünsche, so kann ich mir doch denken, wie es der armen Witwe sein wird, wenn sie den totgeglaubten Sohn wieder hat. Es kommt mir vor wie eine Sünde, dass wir ihr denselben so bald wieder entziehen wollen.“

Aber liebe Mutter, wir wissen ja“, sprach Dorothea, „dass er ohne Lebensgefahr nicht dort bleiben kann. Oder meinst du vielleicht, Vater, er könnte bleiben?“

In keinem Falle“, sagte der Vater, und das Mädchen war durch dies Wort ordentlich beruhigt. Es wäre ihr sehr leid gewesen, wenn Martin nicht mehr gekommen wäre, so gern sie auch der Mutter ihren Sohn, den Geschwistern ihren Bruder gönnte. Es war ihr, als hätte sie auch einen Bruder an ihm gefunden. Als solchen liebte sie ihn.

Während die drei noch sprachen, trat Martin herein. Sie sprangen auf und eilten mit einem Schrei der Überraschung auf ihn zu. „Schon zurück?“, rief der Förster, aber der Jüngling sank ihm ohne Antwort laut weinend in die Arme. Dorothea zitterte, und die Tränen brachen ihr aus den Augen. Die Eltern dagegen führten ihn an den Tisch, Christine bat ihn, sich ruhig niederzusetzen und ihnen zu erzählen, wie es ihm ergangen und warum er jetzt schon zurück sei. Sie meinten, er sei wohl gar nicht bis zu seiner Heimat gekommen. Als sie aber von ihm vernommen hatten, wie es mit den Seinigen stand, verstummten sie vor Erstaunen und Betrübnis. Der Erbförster schwieg, aber sein finsterer Blick verriet, was er über den Markgrafen dachte. Zu sagen wagte er es nicht. Dorothea sah den Jüngling mit der innigsten Teilnahme an und konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. Selbst die Mutter weinte vor Mitleid und konnte lange kein Wort des Trostes finden, wiewohl sie sonst am schnellsten die wahre christliche Fassung wiedergewann.

Teilnehmend erkundigte sich das Mädchen, ob er nicht allzu sehr ermüdet sei, denn die tiefe Blässe seines sonst so blühenden Gesichtes fiel ihr auf. So erfuhren sie nun auch, mit welcher Eile er seiner Heimat zugewandert, wie kraftlos er aber auf dem Rückwege geworden sei. War ja doch kein Schlaf in seine Augen gekommen, seit er sie verlassen hatte. Dazu kam noch die innerliche Aufregung, der tiefe Schmerz seiner Seele, verbunden mit so weiter Wanderung in so kurzer Zeit. War es da wohl ein Wunder, dass er ermattet bis zum Tode vor ihnen saß? Auch jetzt wollte er nichts essen, aber Mutter und Tochter redeten ihm freundlich zu, und Christine wusste wieder durch einigen Trost seine gebeugte Seele etwas aufzurichten. Sie versprach ihm unter anderem, baldigst in die entfernte Stadt zu reisen, sich bei ihren Verwandten nach seinen Geschwistern zu erkundigen und ihnen dieselben zu empfehlen.

Martin fühlte gar bald, wie viel solche herzliche Teilnahme wert ist, wie er sie hier auf Wilgartstein genoss, und die Last seines Herzens, die ihm auf der einsamen Wanderung doppelt schwer geworden, wurde durch den liebevollen Trost der guten Menschen um vieles leichter.

Die Försterin erfüllte auch bald ihr Versprechen. Mit Dorothea reiste sie in die entfernte Stadt. Nach zwei Wochen machte sich Wilgart ebenfalls dahin auf, um sie wieder abzuholen. Unter Furcht und Hoffnung erwartete Martin ihre Rückkunft.

Seit die beiden Frauen fort waren, fühlte sich der Jüngling vereinsamt; er war innerlich förmlich verlassen, und seine trübe Stimmung nahm mit jedem Tag zu. Wilgart war nicht der Mann, um ihn aufzurichten oder zu erheitern, doch sprach er ihm mit kräftiger Rede zu. Es gibt im Leben des Menschen Zeiten, wo man gleichsam von Gott verlassen zu sein scheint; es gibt Stimmungen, in denen kein tröstlicher Zuspruch haften will. Das kommt freilich nur daher, weil die Seele sich nicht ganz ihrem Gott zuwendet. In solcher Stimmung befand sich Martin. Seine Gedanken richteten sich nicht mehr mit solchem Vertrauen zum Herrn, wie ehemals; er brütete finstere Rachepläne aus. Wie konnte dabei sein Sinn nach oben gerichtet sein?

Vornehmlich solange die Försterfamilie von Wilgartstein entfernt war, schien er vom guten Geist verlassen zu sein. Er war zwar vorher düster, still und in sich gekehrt, nun aber streifte er halbe Tage lang im Walde umher, tief in Gedanken verloren. Das kleine Wild konnte ihm über den Weg laufen, er bemerkte es kaum, er nahm die Büchse nicht von der Schulter. Manchmal ballte er die Faust, sein Blick ward wild, seine Lippen bebten und murmelten unverständliche Worte wie Drohungen.

Die Familie kam aus der Stadt zurück. Mit lebhafter Freude empfing sie der arme Jüngling. Es hatte ihm bisher alles gefehlt; beim Anblick der geliebten Menschen ward ihm wieder wohler ums Herz, sein tiefer Trübsinn erheiterte sich einigermaßen. Besonders tat ihm Dorotheas Freundlichkeit wohl.

Dorothea bewillkommnte ihn mit herzlicher Freude, wie einen Bruder, den sie lange vermisst; sie sagte ihm offen, sie habe sehr oft an Wilgartstein und an ihn gedacht. Christine ihrerseits brachte ihm die Hoffnung, dass seine Geschwister versorgt werden sollten. Zwar hatte sie dieselben nicht selbst gesehen, aber man kannte sie in der Stadt, und die Verwandten hatten versprochen, sich der Hilflosen kräftig anzunehmen.

Trotz alledem wollte Martins düsterer Sinn nicht ganz weichen. Mutter und Tochter bemerkten dies mit Betrübnis, vornehmlich aber die Mutter. „Es geht in seinem Innern etwas vor, das nicht gut ist“, sagte sie einmal zu Dorothea, „er wäre sonst nicht so finster.“

Dorothea versetzte: „Aber bedenke doch, Mutter, soll er nicht tief betrübt sein, da seine Mutter schon so lange im Gefängnis schmachtet, da sein Haus zerstört ist und seine Geschwister arm und verlassen in der Welt umherirren?“

Die Mutter sagte: „Du hast recht, liebes Kind; betrübt darf und soll er sein, aber er ist mehr als betrübt, er ist finster. Ich fürchte, sein Herz und sein Sinn haben den rechten Weg verlassen. Der Herr wolle seine Seele vor einem großen Schaden bewahren!“

Es vergingen mehrere Tage. Christine beobachtete den Jüngling mit großer Aufmerksamkeit, doch sagte sie nichts. An einem Sonntagnachmittag hatte Martin, gegen die Sitte des Hauses und gegen seine eigene Gewohnheit, die Büchse über die Schulter gehängt und war in den Wald gegangen. Wilgart und seine Frau hatten es ungern gesehen, sagten aber nichts. Die Abendstunde war nicht mehr fern, in welcher die ganze Familie sich zu ihrer sonntäglichen Andacht zu vereinigen pflegte. Martin war noch nicht zurück. Die Försterin schlug vor, den schönen Abend zu einem Spaziergang in den Wald zu benutzen; vielleicht würden sie dort dem Jüngling begegnen. So gingen denn Vater, Mutter und Tochter an diesem milden Abend des Frühsommers jenem Teiche zu, den wir bereits kennen. Dort, meinte die Mutter, würden sie den Jägerburschen am ehesten treffen. Und auch Wilgart war der Meinung, weil er ihm schon mehr als einmal dort begegnet war, namentlich in der ersten Zeit und in den letzten Tagen.

Die Stelle muss ihm allerdings heilig sein“, sagte Dorothea, vielleicht hält er seine Andacht dort.“

Vielleicht“, erwiderte die Mutter achselzuckend und schwieg dann. Sie glaubte nicht daran.

In der Nähe des Teiches wurde der tiefe Schatten des Buchenwaldes immer lichter; man sah schon in einiger Entfernung den Wasserspiegel zwischen den Stämmen und Zweigen durchblicken. Dorotheas Blicke irrten suchend an dem Ufer des Wassers hin, dann rief sie mit gedämpfter Stimme: „Dort ist er!“

Still!“, sagte die Mutter leise, „Wir wollen uns ruhig verhalten und ihn eine Zeitlang beobachten.“ Sie hatten sich auf einen Baumstamm gesetzt, der zusammengestürzt war, so dass sie bequem nach dem Teiche hinsehen konnten, ohne selbst von dort beobachtet werden zu können.

Dort am Ufer stand Martin, an der Stelle, wo der Hirsch mit ihm tot zusammengestürzt war. Er hatte sich auf die Büchse gelehnt und bewegte sich nicht. Auf seinem Gesicht konnte man eine tiefe innere Bewegung lesen. Die Stirn lag in Falten, die Augenbrauen waren finster zusammengezogen, und die Augen starrten düster glühend auf das Wasser. Das schöne, sonst so offene Gesicht, war ordentlich entstellt, so dass Dorothea sich beinahe ängstlich an den Arm der Mutter hängte und leise sagte:

Ich fürchte mich beinahe vor ihm.“

Ja“, sagte Wilgart, indem er den Kopf schüttelte, „so sieht er fast aus wie das böse Gewissen.“

Wenigstens wie einer, der nichts Gutes im Sinne hat“, warf die Mutter ein, „wobei freilich das Gewissen nicht mehr frei ist. Kommt, wir müssen ihn zur Rede stellen.“

Somit traten sie aus dem Wald heraus an das Ufer des Teiches. Aber der Jüngling war so tief in seine düsteren Gedanken verloren, dass er sie nicht bemerkte, bis sie ganz nahe vor ihm standen. Als er sie sah, erheiterten sich seine Züge. Er ging ihnen freundlich einige Schritte entgegen, und nachdem sie ihn begrüßt hatten, sagte der Erbförster: „Martin, du standest unbeweglich wie eine Bildsäule, wahrscheinlich tief in Gedanken.“

Herr Erbförster“, erwiderte Martin, „kennt Ihr diese Stelle noch? Wie könnt’ ich jemals hierher kommen, ohne daran zu denken, was Ihr mir hier getan habt?“

Gewiss“, sprach Dorothea, „muss dich diese Stelle jedes Mal an Gottes wunderbare Fügung erinnern, die den Vater in jenem entscheidenden Augenblick an den Teich führte. Und du dankst doch dem Herrn hier stets von ganzer Seele für das, was er an dir tat?“

Ja, Dorothea“, rief der Jüngling freudig, „Gott und die drei lieben Menschen, die hier vor mir stehen, kommen mir hier immer in den Sinn.“

War das auch vorhin der Fall, Martin?“, fragte Christine, indem sie ihm fest ins Auge sah. Über seine Wangen flog eine leichte Röte, und er fragte: „Glaubt ihr mir nicht, liebe Frau Erbförsterin?“

Nicht ganz“, antwortete Christine ernst, aber doch freundlich. „Ich glaube zwar wohl, dass du an Gott gedacht hast, aber dein Hauptgedanke kann’s nicht gewesen sein; du sahst ja so finster vor dich hin, dass Dorothea sogar sagte, sie fürchte sich fast vor dir. Der lebendige Gedanke an Gott kann die Miene eines Christen nicht also verfinstern. Der Gedanke an die ewige Liebe bringt so viel Frieden und Freude in das Herz, dass notwendig auch das Angesicht heiter werden muss. Das war vorhin aber bei dir nicht der Fall. Du magst also doch wohl nicht in der rechten Weise an ihn gedacht haben.“

Nicht ohne eine gewisse Verwirrung entgegnete Martin:

Ach, wie kann ich recht heiter sein, wenn ich an Mutter und Geschwister denke?“

Kommt“, sagte die Försterin, „hier liegt ein alter Baumstamm, wir wollen uns darauf setzen. Da können wir in Ruhe noch weiter sprechen; denn ich muss gestehen, es drängt mich längst, ein Wort mit dir zu reden über die Stimmung, in welcher du dich seit deiner Rückkehr aus der Heimat befindest.“

Sie setzten sich nieder auf den Baumstamm, der am Ufer des Teiches lag, und Christine nahm wieder das Wort: „Martin, du weißt, dass ich gegen dich gesinnt bin, wie gegen einen Sohn.“

Ich weiß das“, fiel ihr der Jüngling in die Rede, „und möchte Euch dafür herzlich danken wie ein Sohn.“

Christine versetzte: „Beweise das jetzt und sei offenherzig gegen uns, wie gegen Vater, Mutter und Schwester. Ich habe seit einiger Zeit bemerkt, dass du stiller, verschlossener, finsterer geworden bist. Wärest du bloß trauriger als früher, so fände ich das verzeihlich, da du in deiner Heimat wirklich das Entsetzlichste erfahren hast, was einem guten Sohn und Bruder begegnen kann. Doch du bist nicht mehr bloß traurig, du bist finster, besonders in der Einsamkeit. Wir haben das vor einigen Augenblicken gesehen. In deinem Herzen geht etwas vor, was nicht ganz gut sein kann. Wenn du deinen Gott noch lieb hast, wenn du uns noch liebst, wenn dir der Friede und das Heil deiner Seele lieb ist, vertraue uns an, was dich bewegt und dein ganzes Wesen so verändert hat.“

Martin sah verlegen zu Boden, er hätte gern geschwiegen und sagte nur: „O ich meine, Ihr kennet mich ja und wisset alles.“

Nein, Martin“, sagte die Frau, „ich kenne dich kaum mehr. Du hast dich sehr verändert, und es tut mir weh, dir zu sagen, dass die Veränderung nicht zu deinem Vorteil ist. Früher schien es wenigstens, als würdest du dich immer mehr in die schwere Prüfung Gottes finden und ergeben; jetzt scheint es mir, dass dein Herz vom rechten Wege abgekommen ist. Du kannst das nicht leugnen. Wenn du uns vertraust, so sag uns: Was für Gedanken waren es, die dich vorhin beschäftigten und deinem Gesichte jenen entstellten Ausdruck gaben?“

Ich dachte an die Meinigen“, entgegnete er.

Und an sonst niemand?“, fragte Christine wieder.

Auch an den Markgrafen“, sprach Martin.

So habe ich mich nicht geirrt“, sprach sie, „und will dir nun sagen, was ich schon längere Zeit und vornehmlich heute an dieser Stelle in deinem Herzen gelesen habe. Mein Sohn, du nährst einen tiefen Groll, einen wahren Hass gegen den Fürsten, du wünschest sogar Rache an ihm üben zu können. Ist’s nicht so?“

Martin schwieg eine Zeitlang verlegen, dann sagte er: „Liebe Frau Wilgart, muss sich nicht ein gerechter Zorn in mir regen, wenn ich daran denke, was er mir und den Meinigen getan hat?“

Du hast Unrecht, deinen Zorn gerecht zu nennen“, sprach die Frau. „Des Menschen Zorn tut nie, was vor Gott recht ist, auch deiner nicht. Bitte Gott, dass er den Hass in deinem Herzen vertilge und die Flamme deines Zornes auslösche. Gib deine Rachegedanken auf, ich bitte dich, und bedenke, dass Gottes Wort gebietet: „Vergeltet nicht Böses mit Bösem“, „vergebet, so wird euch vergeben!““

Ach! Was er an mir getan hat, ist zu hart, ich kann ihm nicht verzeihen!“, rief der Jüngling.

Du kannst nicht?“, fragte Christine erstaunt. „Sag lieber, du willst nicht. Wenn du die rechte Liebe zu Gott in deinem Herzen trügest, so würdest du aus Liebe zu ihm deinen Beleidigern und Verfolgern verzeihen. Du würdest bedenken, dass dein Heiland es auch getan hat und dass er von jedem seiner Bekenner verlangt, er solle dasselbe tun.“

Sie sprach lange zu ihm mit wahrem Eifer und mit Feuer der Begeisterung. Sie hielt ihm auch Gottes Wort, das Gebot der Feindesliebe vor. Und wenn er einwendete, wie schwer das zu erfüllen sei, so zeigte sie ihm, wie der Christ nicht bloß die leichten Gebote erfüllen müsse, sondern auch die schweren. Sie wies ihn auf das Beispiel des beleidigten, verfolgten und gekreuzigten Heilandes hin. Sie hielt ihm den Ausspruch der Bibel vor:

Wer seinen Bruder hasst, der ist ein Totschläger und... hat nicht das ewige Leben bei ihm bleibend.“ (1.Joh. 3:15). Christine fragte ihn, wie er selbst vor Gott Gnade finden wolle, wenn dieser auch alles nach der Strenge seiner Gerechtigkeit strafen würde. Einmal erwiderte er, dass alles, was der Markgraf gegen ihn selbst getan habe, das hätte er ihm vergeben mögen, aber die Behandlung seiner Mutter und Geschwister zu vergeben, das sei zu viel. Da erinnerte sie ihn an jene Stelle im Evangelium, wo Petrus den Herrn fragt, ob es genug sei, wenn er seinem Nächsten siebenmal vergebe, und der Herr darauf antwortete: „Ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.“ (Mt. 18:22). Kurz, sie bat so herzlich und freundlich, sie bestürmte ihn so eifrig, allen Groll und Hass fahren zu lassen, wenn er seine eigene Seele und den Herrn liebe, dass Martin am Ende selbst überzeugt wurde von seinem Unrecht. Auch Dorothea redete ihm in demselben Sinne liebreich zu. Je mehr er aber überzeugt wurde, dass sein Herz bisher auf falschem Wege gewesen, desto größer wurde seine Angst, und endlich rief er aus: „Ach, ich kann nicht, ich habe ja zu Gott geschworen, dass ich nicht eher ruhen wolle, bis ich mich an ihm gerächt habe.“

Die beiden Frauen verstummten bei diesem Ausruf vor Schrecken, und selbst Wilgart, der dem Jüngling nicht immer Unrecht gegeben hatte, erschrak darüber tief. Dorothea hatte die Hände zusammengeschlagen und sah den Jüngling starr an. Die Mutter sagte ernst: „Martin, Martin, was hast du getan! Oh, nun wundere ich mich nicht mehr darüber, dass du seitdem keine Ruhe, keinen Frieden mehr gehabt hast, sondern so gottverlassen und finster umhergingst. Sag mir, wie kamst du dazu, das Entsetzliche zu geloben?“

Martin erzählte nun, wie er in jener Nacht des Jammers auf den Trümmern seiner Hütte diesen Schwur getan habe, und schloss mit den Worten: „Ihr seht, ich kann nicht anders, ich muss, ich habe ja geschworen.“

Dein Schwur schon ist eine ungeheure Sünde“, sagte Christine, „und wenn du bei diesem gottlosen Gelöbnis beharren wolltest, so würde sie noch entsetzlicher werden. Es war eine finstere Stunde der Gottvergessenheit, in welcher du einen solchen Schwur tun konntest. Wusstest du nicht, dass es heißt: „Rächet euch selber nicht... Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr“ (Röm. 12:19)?“

Auf solche Weise sprach sie noch lange zu ihm und suchte ihn von dem Unrecht zu überzeugen und von seinem rachsüchtigen Sinn abzubringen. Obgleich die Gedanken und Wege seines Herzens eine Zeitlang ganz verkehrt waren, war es noch nicht so verdorben, dass er nicht hätte einsehen können, wie wahr alles sei, was ihm die Försterin vorhielt. Er wurde tief ergriffen von dem, was sie sagte, und dankte ihr am Ende, dass sie ihn mit Gottes Wort und Hilfe von einer großen Verirrung zurückgebracht und damit auch eine schwere Last von seinem Herzen genommen habe. Dorothea hatte eine wahrhaft rührende Freude über den guten Erfolg dieses Gesprächs.

Die Unterhaltung lenkte sich hierauf wieder auf den Platz, an welchem die vier Menschen beisammen saßen, und Christine suchte immer mehr die Gedanken des Jünglings auf den Herrn zu lenken und ihn im Glauben an ihn, im Vertrauen auf seine Güte und im Gehorsam gegen sein Wort zu bestärken. Wie in einer früheren Unterredung auf Wilgartstein, so versprach er auch jetzt wieder, dem Herrn alles anheim zu stellen, auch die Rache. Christine erhielt übrigens hier wieder einen neuen Beweis, wie schwer das trotzige Herz die Rachsucht fahren lässt. Wie in jenem Gespräch, so äußerte Martin auch hier wieder den Gedanken, Gott möge dem Markgrafen vergelten, was er getan. Christine bekämpfte auch diese Gesinnung als ganz und gar unchristlich und sagte: „Auch das beweist ein unversöhnliches, rachsüchtiges Herz, wenn jemand wünscht, Gott möge seinem Beleidiger nach Verdienst vergelten. Das Herz des wiedergeborenen Christen, der die vergebende Gnade des Herrn an sich selbst erfahren hat, wünscht auch nicht, dass seine Feinde von dem ewigen Richter gestraft werden; sondern seine persönliche Liebe geht so weit, dass er wünscht und bittet, Gott möge dem Feinde alles verzeihen, und statt ihn zu strafen, ihm Gnade erzeigen.“

Ja“, sagte Dorothea, „das meint der Heiland gerade, wenn er uns zuruft: „Liebet eure Feinde; segnet die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.“ (Mt. 5:44-45). Martin, gib mir die Hand darauf und tue vor Gott ein anderes Gelöbnis, nämlich, dass du vergeben willst.“

Martin legte seine Hand in die des Mädchens und reichte sie dann auch den beiden Eltern. Wilgart drückte sie kräftig. Es war unter den braven Menschen wieder eine rechte Freude eingekehrt. Christine namentlich meinte, der Jüngling sei neu gefunden; er selbst kam sich vor wie neugeboren. O es liegt überschwängliche Freude im Vergeben, in der Versöhnung!

Der Abend dämmerte schon tief, als die lieben Menschen die geweihte Stelle an dem Teich verließen und nach dem Jagdschlösschen zurückkehrten. Es war in mehr als einer Hinsicht ein schöner, seliger Abend.

Der Umgang mit frommen Menschen erfreut das Herz und ist ein großer Gewinn für die Seele. Martin Brendel verspürte das täglich mehr an sich selbst, indem er an christlicher Erkenntnis gewann, und festes Vertrauen und erquickender Friede, selbst bei dem Gedanken an Mutter und Geschwister, ihn selten mehr verließen.

Wilgart war mit ihm, als seinem Jägerburschen, sehr zufrieden, denn er war willig und gelehrig, und im Hause wurde er längst als ein Glied der Familie angesehen und behandelt. Er hätte ganz glücklich sein können, weit glücklicher, als er in seinem Dorfe vielleicht je geworden wäre, wenn nicht das Unglück der Seinen stets lebhaft vor seiner Seele geschwebt hätte, so dass er nicht immer ganz und gar Herr über den Trübsinn werden konnte, der ihn dann beschlich.

Einen solchen trüben Tag hatte Martin einmal, als der Herbst wieder kam. Er dachte an den kommenden Winter und an seine Geschwister. Mit der Büchse streifte er draußen über Berg und Tal, auch an dem Teiche war er wieder gewesen. Er war mehrere Stunden weit von Wilgartstein entfernt, gerade im wildesten Teil jenes Gebirges. Hohe, steile Berge mit ungeheuren Felsmassen, tiefe Klüfte und Schluchten mit schroffen Wänden, dichte dunkle Wälder umgaben ihn allenthalben. Noch nie war er so tief in diese Bergwälder hineingedrungen, aber je tiefer er in die Einsamkeit derselben hineinkam, desto besser gefiel es ihm. Je düsterer und stiller, desto mehr war es heute nach seinem Sinne.

Es war etwa in der Mitte des Nachmittags, als er aus weiter Ferne Schüsse hörte. Aufmerksam horchte er und hörte immer von neuem schießen. Er überlegte, ob er umkehren oder vorwärts gehen solle. Die Neugier trieb ihn, eine steile, felsige Anhöhe zu ersteigen, weil er hoffte, von dort aus einige der Jäger oder eine ganze Jagdgesellschaft zu sehen. Er war noch nicht weit auf seinem steinigen Pfade hinaufgestiegen, als ein Hirsch durch das Dickicht brach und in rasender Eile an ihm vorüberjagte. Hinter ihm drein erscholl Hundegebell. Martin hätte nur anlegen und losdrücken dürfen, und gewiss wäre das Tier zusammengestürzt; es zuckte ihm auch ordentlich in der Hand. Aber er besann sich schnell und schoss nicht. Vielmehr war er darauf bedacht, schnell zurückzueilen oder in der Nähe ein sicheres Versteck zu suchen, weil er sich ja vor den Menschen hüten, namentlich aber vor den markgräflichen Jägern fürchten musste. Zwar konnte er nicht denken, dass Jäger vom Schlosse des Markgrafen oder aus der Nähe desselben in dieser entlegenen Gegend jagen würden, doch schien ihm Vorsicht jedenfalls notwendig.

Und wie er sich eben behutsam zurückziehen wollte, jagten zwei Hunde an ihm vorüber auf der Fährte des Hirsches. Einen Augenblick stand er stille, und in diesem Augenblick schlug ein lauter, gellender Angstschrei an sein Ohr. Erschreckt hielt er den Atem an und horchte gespannt nach der Richtung hin, woher der Schrei zu kommen schien. Dieser wiederholte sich, und zwar immer lauter, immer durchdringender. Es musste jemand in großer Gefahr sein, denn der Angstruf wurde immer grässlicher und ging in ein wahres Angstgeheul über.

Da galt es nicht mehr, sich zu besinnen, da dachte er nicht mehr an seine Gefahr. So schnell wie möglich eilte er in die Richtung, woher der Hilferuf erscholl. Immer näher ertönte der entsetzliche Schrei. Und als er sich durch das Gebüsch hindurcharbeitete, sah er vor sich eine enge, tiefe Felskluft, über welche teilweise dichtes Gesträuch gewachsen war, so dass man sie nicht an allen Stellen auf den ersten Blick sah. Martin schaute forschend hinab und erblickte einen Mann in fürchterlicher Lage. Dieser hing nämlich an dem Aste eines Strauches, und zwar mit einem Fuße, während Körper und Haupt in die tiefe Schlucht hinabhingen. Ohne Zweifel hatte der Mann das Wild hitzig verfolgt und die vom Gebüsch halb versteckte Schlucht nicht gesehen. Er war kopfüber hinabgestürzt, aber mit dem einen Fuß in den Ästen des Gesträuchs hängen geblieben, was leicht geschehen konnte, da seine Stiefel nach der Sitte jener Zeit mit gewaltigen Sporen versehen waren. Indes durfte er keinen Versuch machen, sich zu retten, wenn er nicht in die Tiefe hinabstürzen wollte. Jede etwas stärkere Bewegung hätte seinen Fuß aus dem Geäste lösen oder einen Ast abreißen können. Sein Tod wäre dann unvermeidlich gewesen, weil er mit dem Kopf voran in die Tiefe und auf die Felsen gestürzt wäre. So viel erkannte der Unglückliche wohl, darum hielt er seinen Körper ruhig und schrie laut um Hilfe. Da jedoch sein Kopf abwärts hing und alles Blut sich dahin drängte, so war er bald auch nicht mehr imstande, laut zu rufen, sondern stieß nur noch von Zeit zu Zeit einige Laute aus, die wie ein dumpfes Geheul klangen. Außer unserem Martin hörte ihn jedoch kein Mensch.

Dieser erkannte indes sogleich die Größe der Gefahr. Nicht ohne Schauder sah er in die Tiefe hinab, in welcher die Büchse und der Hut des unglücklichen Jägers lagen, und denen dieser bald nachfolgen musste, wenn ihm nicht schleunigst Hilfe gebracht würde. Aber auch das war nicht leicht, wenigstens nicht ohne Lebensgefahr zu bewerkstelligen. Die Felsen senkten sich ganz steil in die Tiefe, und es war schwer, sich dem Unglücklichen zu nähern.

Martin hatte noch keinen Laut von sich gegeben; er fürchtete, der Jäger könne bei dem Ton einer menschlichen Stimme eine Bewegung machen und auf diese Weise seinen Sturz herbeiführen. Er legte die Büchse weg und suchte eilend, aber vorsichtig eine Stelle, wo er sich dem Manne nähern könne. Bei dieser Gelegenheit sah er diesen von der Seite. Er hatte ein reiches, prächtiges Jagdkleid an, sein Hirschfänger hatte einen goldenen Griff, Pulverhorn und Hifthorn waren reich mit Gold eingelegt. Martin schaute in das von Todesangst verzerrte Angesicht, dessen Augen geschlossen waren, wahrscheinlich, um die fürchterliche Tiefe nicht länger zu sehen. Er erkannte den Mann – es war der Markgraf selbst.

Wie angewurzelt blieb der Jüngling stehen und sah starr auf den Fürsten. Sein alter Zorn regte sich. Er dachte an seine Verurteilung und an die Unmenschlichkeit, mit welcher der Markgraf ihn, seine Mutter und seine Geschwister behandelt hatte. Es kam ihm vor, als habe Gott den Wüterich in seine Hand gegeben, damit er an ihm seine Rache vollführen und die Erde von einem Tyrannen befreie. Ein Stoß wäre hinreichend, um dies alles zu vollführen. Die Hand des Jünglings zuckte, aber er reckte sie nicht aus. Er brauchte nicht einmal die Hand an seinen Feind zu legen, er durfte ihn nur in seiner gefahrvollen Lage lassen, und sein Tod war gewiss, noch ehe vielleicht eine Viertelstunde verfloss.

Doch nur einen Augenblick ging dies in der Seele des Jünglings vor, nur einen Augenblick drohte sein alter rachsüchtiger Sinn die Oberhand zu gewinnen. In der nächsten Minute schon erschrak er selbst tief über seine Gedanken. Christine und Dorothea standen wie gute Engel vor seiner Seele, er erinnerte sich des Gesprächs an dem Teich. Er blickte zum Himmel, als wollte er Gott durch diesen Blick um Vergebung dafür bitten, dass er nur einen Augenblick an Rache denken konnte. Seine Seele gedachte dessen, was der Herr an ihm selbst getan, obwohl auch er nicht würdig war solcher Barmherzigkeit. Er sprach bei sich selbst: „Herr, vergib mir und stehe mir bei!“

Alles das ging jedoch viel schneller im innern Martins vor, als es hier mit Worten erzählt werden kann. Er dachte nun nicht mehr an sich, sondern nur an das Gebot des Herrn: „Rächet euch selber nicht“, und: „Liebet eure Feinde!“ Die eigene Lebensgefahr vergessend, stieg er an dem Felsen hinab und rief dem Markgrafen zu: „Bleibt ruhig, Herr!“ Dieser schlug die Augen auf, und sein ganzer Körper zitterte vor Angst und Freude, so dass Martin fürchtete, er würde stürzen, ehe er zu ihm gelangt sei. „Haltet euch ganz stille!“, rief er nochmals, als er dicht an ihm war. Hierauf schlang er den linken Arm um eine junge Tanne, die aus einer Felsenritze hervorgewachsen war, ergriff mit der rechten Hand die Kuppel des Hirschfängers, hielt so mit seiner kräftigen Faust den ganzen Körper des Markgrafen fest und zog ihn ein wenig in die Höhe. „Suchet das Gesträuch zu ergreifen!“, rief er ihm zu, und der Fürst bog den Oberkörper in die Höhe, fasste einen Ast des Gebüsches, machte seinen Fuß aus der Verwicklung los und stand bald neben seinem Retter auf der schmalen Felszacke.

Als sie beide oben waren, setzte sich der Markgraf einige Schritte von der Felskluft entfernt auf einen Stein und lehnte sich erschöpft an einen Baum. Die Viertelstunde der Todesangst hatte ihn furchtbar angegriffen. Jetzt sah er auch erst, dass sein Retter nicht zu seinem Gefolge gehörte, sondern ein Fremder war. Er betrachtete ihn eine Zeit lang schweigend, dann fragte er: „Weißt du, wen du vom fürchterlichen Tode gerettet hast?“

Wenn ich nicht irre, seid Ihr mein Herr, der Markgraf“, antwortete Martin.

Und wer bist du?“, fragte jener.

Martin versetzte: „Ich bin ein Jägerbursche auf Eurem Jagdschloss Wilgartstein.“ Er hatte anfangs Bedenken getragen, diese Antwort zu geben, aber lügen wollte er doch nicht. Er hatte auf Wilgartstein gelernt, dass auch eine so genannte Notlüge immer eine Lüge bleibe und nicht recht sei, obgleich man sie in der Welt nicht für Unrecht hält.

Unterdessen hatte er seine Büchse wieder vom Boden aufgenommen und fragte den Markgrafen, ob er ihm noch etwas befehle, denn er müsse nun seinen Rückweg antreten, weil er einige Stunden von dem Schlosse entfernt sei. Der Markgraf gab ihm sein schönes Hifthorn und sagte: „Steige dort die Anhöhe hinab, du wirst mein Ross an einen Baum gebunden finden, bring es hierher. Unterdessen stoße dreimal in das Horn, damit mein Gefolge auch hierher komme.“

Martin ging den Berg hinab und stieß unterwegs dreimal in das Horn, dass es weit durch Berg und Tal schallte. Alsbald antworteten andere Hörner in der Ferne und nach einiger Zeit kamen mehrere Jäger an der Stelle zusammen, wo das Pferd des Markgrafen stand. Sie hatten diesen bereits ängstlich gesucht, und als Martin erzählte, in welcher Gefahr sich ihr Herr befand, erschraken sie sehr und ritten schleunigst den Berg hinauf, während Martin das Ross hinaufführte. Alle fürchteten, der Markgraf werde über sie sehr erzürnt sein.

Dies war jedoch nicht der Fall, vielmehr empfing er sie freundlich, erzählte ihnen selbst, wie es ihm ergangen war und zeigte dabei auf unseren Martin als seinen Retter. Dieser stand ernst und bescheiden in einiger Entfernung und erwiderte nichts, als die Herren seine Tat laut lobten und priesen. Er dachte in diesem Augenblicke an des Herrn Wort: „Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist, so sprechet: Wir sind unnütze Knechte, wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren.“ (Lk. 17:10). Er konnte nicht anders denken, als dass jeder andere an seiner Stelle das Nämliche getan hätte. Ja, er war schon darum nicht ganz zufrieden mit sich, weil er nur einen Augenblick den Gedanken hegen konnte, den Fürsten seiner gefahrvollen Lage zu überlassen. In seinem Herzen dankte er Gott, dass er ihn vor solch ungeheurer Sünde bewahrt habe. Sich einen Verdienst aus seiner Tat zu machen, daran dachte er nicht und war nur darüber froh, dass ihn weder der Markgraf noch einer aus dessen Gefolge erkannte.

Indessen erhob sich dieser und schwang sich auf sein Ross ohne Hut und Büchse, denn diese lagen noch in der Tiefe und wurden erst später geholt. Er befahl einem Teil seines Gefolges, nach dem nahen Schlosse zurückzureiten, wo er sich seit drei Tagen aufhielt, um zu jagen. Er hatte nämlich mehrere solcher Jagdschlösser wie Wilgartstein. Vier Jäger, darunter zwei Edelleute, mussten bei ihm bleiben, und Martin erschrak nicht wenig, als er die Weisung erhielt, voranzugehen und den Weg nach Wilgartstein zu zeigen. Er ging mit nicht ganz leichtem Herzen voran.

Dorothea stand am Fenster und schaute in das Tal hinaus, ob Martin noch nicht heimkehre. Die Mutter war in der Küche, der Vater saß ermüdet in dem großen Lehnstuhl. Die Sonne war schon untergegangen, und ein dünner Nebel fing an, sich über das Tal zu ziehen. Dorothea schaute scharf nach der Gegend hin, woher nach ihrer Meinung der Jüngling kommen musste. Plötzlich fuhr sie vom Fenster zurück und rief: „Vater, Mutter, was ist das?“ Wilgart trat an das Fenster, und auch Christine, die den Ruf des Mädchens gehört hatte, kam eilend herbei. Alle drei sahen nun in einiger Entfernung von dem Schlosse fünf Reiter daherkommen, und in dem Jägerburschen, welcher vor ihnen herging, erkannten sie Martin Brendel. Sie waren aufs höchste erstaunt und bestürzt.

O Schreck“, rief mit einem Male der Erbförster, „es ist der Markgraf! Ich erkenne ihn an seinem Barte und an seinem Jagdrosse.“

Man kann sich denken, wie die guten Leute erschraken. Sie glaubten nicht anders, als dass Martin erkannt sei und werde gefangen hierher geführt. „Er ist verloren und wir mit!“, rief Wilgart. Schnell warf er sich in seinen besten Rock und eilte hinaus. Dorothea hängte sich ängstlich an ihre Mutter, und selbst dieser war es bei der Sache nicht wohl zu Mute.

Vor dem Hoftore bewillkommnte der Erbförster seinen Fürsten und Herrn und bezeigte mit pochendem Herzen sein Erstaunen und seine Freude über die unerwartete Gnade, welche ihm widerfahre. Der Markgraf nickte freundlich, schwang sich vom Pferde und reichte dem erschrockenen Erbförster die Hand, was er sonst nie getan hatte. Wilgart atmete wieder freier, als er die Zeichen der freundlichen Gesinnung seines Herrn sah. Indessen war der Knecht herbeigeeilt und führte mit Martins Hilfe die Pferde nach den Ställen, während Wilgart den Markgrafen und die beiden adeligen Herren in den oberen Teil des Schlosses geleitete. Die beiden andern Jäger blieben unten.

In dem Schlosse war zwar zu jeder Zeit alles zum Empfang der hohen Herrschaft bereit, aber doch verursachte die plötzliche, unerwartete Ankunft des Fürsten eine lebhafte Bewegung in der ruhigen Familie. Die Angst um Martin vermehrte noch diese Unruhe. Dieser eilte jedoch sobald als möglich in die Küche und erzählte den beiden Frauen, was geschehen war. Christine umarmte ihn wie ihren Sohn. In demselben Augenblick kam auch ihr Mann herein. Der Markgraf hatte ihm selbst seinen Unfall und seine Rettung durch den Jägerburschen erzählt. Auch er drückte den Jüngling freudig an seine Brust, und Dorothea rief:

Martin, Martin, das hat Gottes Hand so gefügt!“

Die Angst war nun verschwunden. In der Küche wurde gesotten und gebraten, der Erbförster musste mit dem Markgrafen und den beiden Edelleuten essen, und die beiden Jäger warteten auf. Nach der Tafel mussten auch Mutter und Tochter vor dem Markgrafen erscheinen. Er sprach freundlicher mit ihnen, als er je getan, zog sich jedoch bald in sein Schlafgemach zurück, weil er nach den Vorfällen des Tages der Ruhe bedurfte.

Martin hatte sich unterdessen in seine Stube zurückgezogen und saß still und nachdenkend auf seinem Lager. Er überdachte die Begebenheiten dieses Tages und erkannte allerdings die Hand Gottes recht deutlich in dem, was geschehen war. Aber wie sollte es nun für ihn enden? Er war noch nicht frei von aller Besorgnis, doch wollte er dem, der es so gefügt, alles vertrauensvoll empfehlen.

Als es stiller im Hause geworden war, ging er in die Wohnstube hinüber und traf dort die Familie an. Mit schwerem Herzen erklärte er, dass er seiner Meinung nach sich aus dem Schlosse entfernen müsse, weil er sonst doch noch erkannt zu werden fürchtete. „Denn was sollen wir sagen“, sprach er, „wenn der Markgraf nach meinem Namen fragt?“

Dass die andern dieser Meinung nicht waren, lässt sich leicht denken. Der Förster widersprach ihm, weil er glaubte, durch seine Entfernung könnte der Markgraf argwöhnisch werden, und so das Geheimnis noch eher an den Tag kommen. Dorothea dagegen meinte, es liege nichts daran, wenn auch Martins Name bekannt werde, sie sehe es lediglich als eine Fügung Gottes an, welcher gewiss das traurige Schicksal Martins ändern wolle. Man solle nur bei der Wahrheit bleiben und dem Herrn die ganze Sache anheim stellen, dieser werde es gewiss zum Besten lenken.

Das meine ich auch“, sprach die Mutter. „Sei getrost, mein Sohn, und gib dich zufrieden; denn der Herr, welcher die Herzen lenkt wie Wasserbäche, wird auch das Herz des Fürsten lenken, wie es seinem weisen und gnadenvollen Rate angenehm ist. Er hat ja auch dein Herz vom argen Wege auf seinen Weg gelenkt. Vertrau ihm, er wird mit dir sein.“ Martin gab sich damit zufrieden.

Am anderen Morgen ging der Markgraf in seinem Zimmer auf und ab und blieb manchmal in Gedanken stehen. Seine Miene war ernst, aber nicht finster, wie sonst. Die Hand des Herrn hatte ihn schon ergriffen. Hatte er doch gestern das Ende aller irdischen Dinge nahe gesehen, und zwar ein fürchterliches Ende. Eine Viertelstunde, wie er sie gestern durchlebt hatte, ist imstande, das härteste Herz weicher zu machen.

Nach dem Frühstück ließ er dem Erbförster sagen, er möge mit seinem Jägerburschen zu ihm hinaufkommen. Nicht ohne einiges Zagen schickten sich diese beiden zu diesem Gang an. Dorothea reichte dem Jünglinge an der Treppe die Hand und sagte mit fester Zuversicht: „Geht mit Gott, der wird euch geben in dieser Stunde, was ihr sagen sollt, und des Markgrafen Herz wird er lenken.“

Die beiden Männer traten in den kleinen Saal, wo der Markgraf mit seinen Begleitern saß. Er trat ihnen einen Schritt entgegen und sprach zu dem jungen Manne: „Du bist ein wackerer Bursche, mit eigener Gefahr hast du mir gestern das Leben gerettet; denn ohne deine Dazwischenkunft läge ich jetzt in der tiefen Felskluft. Du sollst nicht unbelohnt bleiben. Fordere dir eine Gnade, ich will dir geben, was du verlangst, so wahr ich Markgraf bin, und wär’s die Hälfte meines Landes.“

Der Erbförster fühlte sein Herz ganz erleichtert bei diesen Worten. Aber der Jüngling besann sich nicht lange. Er neigte sich vor dem Fürsten und sagte ernst und ruhig: „Gestrenger Herr Markgraf, was ich getan habe, ist Christenpflicht und keines Lohnes wert. Wie für Euch, so hätte ich für jeden Menschen mein Leben in Gefahr gesetzt, weil der Herr solches von uns verlangt; und wie ich, so glaube ich, hättet auch Ihr und jeder Mensch dasselbe an seinem Mitmenschen getan. Ich danke Euch herzlich für Eure Güte, wüsste aber nicht, was ich für mich verlangen sollte. Ich bin von Kindheit auf gewöhnt worden, mir an Gottes Gnade genügen zu lassen, und die gibt mir und hat mir gegeben, was ich bedarf und mehr als ich verdiene. Wollt Ihr mir aber doch eine Gnade erzeigen, so möchte ich um etwas bitten, was mich überaus glücklich machen könnte.“

Der Markgraf war erstaunt über die Worte des Burschen und fiel ihm schnell in die Rede: „Nenne es, und es soll dir werden, damit ich nicht ganz und gar dein Schuldner bleibe.“

Herr Markgraf, gebt mir meine Mutter frei!“, rief der Jüngling mit bebender Stimme, indem die Tränen ihm in die Augen stiegen.

Der Fürst sah ihn starr, beinahe entsetzt an. Wilgart erbleichte vor Schreck, und auch die beiden Edelleute sahen einander höchst verwundert an.

Wer bist du?“, rief der Fürst. „Ha! Ich erkenne dich, bist du nicht...?“

Martin Brendel!“, rief dieser und sank vor dem Markgrafen auf ein Knie nieder.

Erschüttert wandte dieser sich weg, er konnte eine Zeitlang seine Fassung nicht wiedergewinnen. Der Erbförster sah ängstlich nach ihm hin. Hierauf kehrte der Fürst sich wieder zu dem Jüngling, fasste seine Hand und sagte mit weicher Stimme: „Steh auf!“

Aber Martin erhob sich nicht, er sah ihm ins Auge und sagte:

Und meine Mutter?“ „Ist frei“, erwiderte der Fürst. Da konnte der Jüngling sich nicht mehr mäßigen vor Freude, er ergriff des Markgrafen Hand, benetzte sie mit Tränen und bedeckte sie mit Küssen, und sein Herz jubelte und pries den barmherzigen Gott.

Es wurde vorhin schon gesagt, dass die Hand des Herrn den Markgrafen ergriffen und sein Herz milder gemacht habe; jetzt aber erkannte er erst recht den, nach welchem er sonst so wenig gefragt, an den er kaum geglaubt hatte. Der Gedanke, dass ein Mensch, den er so grausam misshandelt hatte, wunderbarerweise vom Tode gerettet worden war, und dass dieser sich nicht an ihm gerächt, wie es doch in seiner Macht stand, sondern ihn selbst dem grässlichsten Tode entrissen hatte, ergriff sein Gemüt sehr tief. Er fühlte sich beschämt und gedemütigt und bewunderte den Sohn der armen Witwe, der als Mensch weit größer war als er selbst. Vor seinen bisher durch Hochmut verblendeten Augen erschien nun Gottes Fügung und Führung im herrlichsten Lichte und ließ ihn sein begangenes Unrecht sehen. Doch es muss dem nachdenkenden Leser überlassen bleiben, sich selbst zu sagen, was alles in der Seele des Fürsten vorging. Wer könnte das hier in wenigen Worten beschreiben? Nur das eine sei noch gesagt, dass es von dieser Stunde an anders mit ihm wurde. Er sah sich selbst im wahren, göttlichen Licht und in ihm fing ein neues Leben an, ein Leben von Gott gewirkt.

Augenblicklich befahl der Markgraf, den Kerker der Witwe zu öffnen. Bleich und abgezehrt wankte die arme Frau daher und fiel ohnmächtig ihrem totgeglaubten Sohne in die Arme. Welch ein Wiedersehen, als sie erwachte! Nur der kann sich die Szene vorstellen, der einmal ähnliches erlebt hat.

Die arme Witwe Brendel war überaus glücklich und dankte Gott unter Tränen für diese Stunde. Ihr fester Glaube an ihn hatte sie auch im Kerker getröstet und aufrechterhalten; denn wer sich ihm einmal ganz ergeben hat, den verlässt er nie und nirgends. Sie bekannte auch offen, dass, wenn der Herr nicht ihr Trost gewesen, sie in ihrem Elend vergangen wäre. Aber ihre Liebe zu ihm hatte sie gestärkt, eine Liebe, die nur in den Worten des Psalms völlig ausgedrückt ist: „Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.“ (Ps. 73:25-26). Solche Liebe lässt nicht zuschanden werden. Und solche Liebe weiß auch zu vergeben. Von Herzen vergab die arme Witwe dem Markgrafen alles, was er ihr Übles getan, namentlich als sie erfuhr, was er noch ferner anordnete. Er ließ nämlich ihre drei Kinder aufsuchen, und ehe noch der Abend kam, war die ganze Familie wieder beisammen.

Martin wurde wieder zu dem Markgrafen gerufen, und dieser schlug ihm vor, bei ihm zu bleiben, indem er ihm einen einträglichen Dienst geben wolle. Wilgart, welcher dabei stand, freute sich wohl darüber, war aber doch betrübt, wenn er daran dachte, dass der Jüngling nun nicht mehr zu seiner Familie gehören solle. Martin sah ihn an und sagte zu dem Markgrafen:

Ich muss Euch auch dafür danken, edler Herr, denn ich möchte mit dem Retter meines Lebens gern wieder nach Wilgartstein zurückkehren. Wenn Ihr aber an meiner armen Mutter und an meinen Geschwistern etwas tun wollt, so möge Gott Euch das vergelten“.

Für deine Mutter wird gesorgt“, sprach der Fürst. „Komm und schaue dort hinaus.“

Martin musste an das Fenster treten und sah hinaus nach seinem Geburtsorte. An dem Platze, wo früher seine Hütte stand, arbeiteten viele Leute; sie waren beschäftigt, ein neues Haus zu bauen.

Was meinst du, mein treuer Wilgart“, sprach der Markgraf zu diesem, „soll ich den Jungen mit dir ziehen lassen oder mit seiner Mutter, oder soll ich ihn bei mir behalten?“

Wilgart antwortete: „Tut, was Euer gnädiger Wille ist; wollt Ihr aber durchaus dem Jüngling eine Gnade erweisen und mir zugleich, so lasset ihn mit mir ziehen. Sehet, ich habe keinen Sohn, auf den die Försterei Wilgartstein vererbt werden möge, gebt mir diesen zum Sohne.“

Abgemacht!“, rief der Markgraf, „Er sei dein Sohn und nach deinem Hinscheiden Erbförster auf Wilgartstein.“

In Gegenwart des Fürsten fiel Martin dem Erbförster um den Hals, dann aber sagte er: „Ich habe Euch schon längst wie einen Vater geehrt und geliebt, ich will es auch ferner tun. Aber da mich unser Herr und Fürst so mit Güte überhäuft, so füget noch das Schönste hinzu.“

Was ist das?“, fragte Wilgart.

Gebt mir Eure Tochter Dorothea zur Ehefrau!“, sagte der Jüngling mit einem treuherzigen Blick.

Mit Freuden sagte der Vater dies zu, denn er wusste, dass seine Tochter dem Burschen hold sei und nichts dagegen einwenden werde. Der Markgraf zeigte sich sehr vergnügt über die Art, wie sich alles fügte, und äußerte später einmal, dies sei die vergnügteste Stunde seines bisherigen Lebens gewesen. Wir glauben das gern, denn Menschen glücklich zu machen, ist etwas Göttliches, und der Markgraf hatte das früher nicht getan. Freundlich lud er sich bei Martin zur Hochzeit ein.

Am dritten Morgen verließen der Erbförster und die Witwe Brendel mit ihren vier Kindern das markgräfliche Schloss. Die Mutter fuhr mit den drei jüngeren Kindern in einem Wagen, die beiden Männer ritten nebenher. Alle waren neu gekleidet und reichlich beschenkt. Sie fuhren nach dem Dorf, und da die Geschichte schon in der ganzen Gegend ruchbar geworden war, so kamen viele Menschen, um sie zu sehen und zu begrüßen. Die Landleute freuten sich über das, was Gott an der geachteten Brendel’schen Familie getan hatte, und hofften zugleich, der Markgraf werde von nun an ein gnädiger Regent sein. Ihre Hoffnung war nicht eitel, denn es begann gewissermaßen eine ganz neue Zeit für das Land. Der Markgraf zeigte sich bis an sein Ende als ein viel milderer und besserer Regent und gewann sich selbst die Liebe seiner Untertanen, die er bisher nie besessen hatte. Das Volk hatte darum Ursache Gott zu preisen, so oft der Name Brendel genannt und die Geschichte der Familie besprochen wurde.

Die Witwe sah ihr Häuschen größer, schöner und fester wieder aufgebaut, selbst die Sprüche standen wieder am Giebel; ganz fertig war es jedoch noch nicht. Unter dem Jubel der Dorfbewohner zogen nun die vom Herrn erhaltenen und beglückten Menschen fort nach Wilgartstein und wurden mit unaussprechlicher Freude von Christine und Dorothea empfangen. Der Vater erzählte alles, was vorgefallen war, und Dorothea legte mit Freuden die Hand in die des geliebten Jünglings. Mit Preis und Dank gegen Gott überdachten und besprachen nun die Glücklichen miteinander alles, was Gott im Laufe der zwei letzten Jahre an ihnen getan hatte.

Weißt du nun, Martin“, sagte Christine, „warum der Herr die Leiden zuließ? Er will durch dieselben immer neue Freude schaffen. Meine seligste Freude aber ist die, dass er deine Seele für sich gewonnen hat. Weil er dich lieb hatte, wie er jeden Menschen lieb hat, darum züchtigte er dich. Er wollte dein Herz festmachen, und ich denke, es ist nun gegründet in ihm für Zeit und Ewigkeit. Und hat er nicht auch des Fürsten Herz gelenkt und gewonnen? Glaubst du nun an ihn, vertraust du ihm, auch wenn er nicht tut, was du meinst und für gut ansiehst?“

Mutter“, sagte Martin, „ich glaube und vertraue; ich weiß nun, dass seine Gedanken nicht unsere Gedanken, und seine Wege nicht unsere Wege sind.“

Und“, fügte seine leibliche Mutter hinzu, „dass er nur Gedanken des Friedens über uns hat und nicht des Leides; und dass sein Rat wunderbar ist, dass er aber alles herrlich hinausführt.“

Nach einigen Monaten kam der Markgraf mit einem kleinen Gefolge nach Wilgartstein zur Hochzeit und feierte mit den guten Menschen einen zweiten vergnügten Tag. Da war rechte Freude in dem Herrn. Und als Gott den beiden einen Sohn bescherte, gab ihm der Markgraf selbst seinen Namen.