Die Strafe des Wilderers

Am Fuße des Berges, auf welchem das Schloss des Markgrafen stand, breitet sich ein weites, grünes Tal aus, das man fast eine kleine Ebene nennen könnte. Die Höhen gegenüber sind nunmehr wohl angebaut, aber da, wo sich jetzt die schönsten und fruchtbarsten Felder ausbreiten, stand in jener Zeit ein prächtiger Wald, den die Axt nicht berühren durfte, weil der Fürst in demselben das Edelwild hegte.

Über die Wipfel dieses Waldes stieg am zweiten Tage nach Martin Brendels Gefangennahme die Sonne glänzend auf und warf ihre Strahlen so feurig auf die Türme, Mauern und Fenster des Schlosses, dass dieses wie vergoldet erschien. Auch der Turm, in welchem Martin gefangen saß, strahlte hell in diesem goldenen Lichte der Morgensonne. Aber der Jüngling sah keinen Lichtstrahl, sein Kerker war tief in der Erde, dunkel und feucht. Nur zweimal vierundzwanzig Stunden hatte seine Gefangenschaft gedauert, aber diese kurze Zeit schien ihm da unten eine Ewigkeit zu sein. Er war ja an die frische, freie Himmelsluft gewöhnt, an den hellen Sonnenschein, da unten aber musste er beides entbehren. Er wusste nicht, wann der Tag anbrach, nicht, wann die Nacht kam. Heute aber mochte er wohl merken, wann der Morgen kam, denn schon ganz früh erhob sich auf dem Schlosshof gewaltiges Getöse, das wie ein ferner Donner in die Tiefe seines Gewölbes herabdrang. Er vermutete nicht ohne Grund, dass heute etwas ganz Besonderes vorgehe, vielleicht mit ihm selbst. Was lag ihm daran? Ihm war alles recht, was man mit ihm anfangen würde, nur da unten in dem finsteren Loch hätte er nicht elend umkommen mögen.

Während Martin in seinem Kerker auf das Getöse über ihm horchte, die Rosse den Boden des Schlosshofes ungeduldig stampften und mancherlei Zurüstungen gemacht wurden, hatte sich unten in dem weiten, grünen Tal eine zahllose Menge Volk versammelt. Voll Erwartung waren alle Augen hinauf nach dem Schlosstor gerichtet, und von Mund zu Mund hörte man den Namen Martin Brendel. Ihm galten heute alle diese Zubereitungen, seinetwegen hatte sich das Volk versammelt. Die Strafe, welche der Markgraf über ihn aussprach, sollte noch in dieser Stunde an ihm vollzogen werden. Der grausame Herr wollte, wie er gesagt, allem Volk ein abschreckendes Beispiel vor Augen stellen, damit niemand es ferner wage, einen Wildfrevel zu begehen, noch viel weniger ihm selbst mit trotziger Rede entgegenzutreten.

Und um dieses furchtbare Schauspiel zu sehen, war das Volk von allen Seiten herbeigeströmt. So sind die Menschen leider. Ihre Neugier ist nicht zu zähmen; und wenn ein solches Schauspiel das Herz zerreißt, sie kommen doch, um es anzuschauen, ja es ist ihnen umso lieber, je grässlicher es ist.

Auch die Bewohner des Dorfes, in welchem Martin geboren und erzogen war, hatten sich da eingefunden; aber es muss zu ihrer Ehre gesagt werden, dass mehr das Mitleid, als die Neugier sie herzog. Da war kein Mensch, der den armen Martin Brendel und seine Mutter nicht tief bedauerte, aber niemand hatte den Mut, seine Tränen sehen zu lassen oder ein Wort des Mitleids über den Jüngling zu sprechen. Es war sieben Uhr. Ein Gemurmel lief durch die Volksmenge. Alles kam in Bewegung, denn siehe, eben tat sich das Schlosstor auf und aus demselben kam ein langer Zug herab in das Tal. Voran gingen vier Jäger, die einen großen stattlichen Hirsch mit hohem Geweih führten. Geschickt hielten sie das starke, wilde Tier fest und zwangen es, ruhig mit ihnen den Schlosshügel herabzugehen. Dann folgten bewaffnete Soldaten, in ihrer Mitte – Martin Brendel mit gefesselten Händen. Er stieg festen Schrittes den Schlossweg hinab, und auf seinem Gesicht war keine Todesfurcht zu sehen, aber der Ernst lag darauf wie ein tiefer Schatten. Er dachte an Mutter und Geschwister, an Gott und Ewigkeit. Dann aber zeigte sich in seinem Auge und in seinen Zügen auch der Groll, ein tiefer, glühender Hass gegen die, welche ihn so ungerecht zu dem grausamen Tode verbannt hatten. Sein innerer Mensch war noch nicht erneuert, dass er alles hätte vergeben und wie der Herr Jesus in der Todesstunde beten können: „Vater, vergib ihnen!“

Hinter den Soldaten, welche Martin in ihre Mitte genommen hatten, folgte der Markgraf mit einigen Edelleuten und zahlreicher Dienerschaft, alle hoch zu Ross und gerüstet wie zum fröhlichen Jagen. Der Markgraf blickte finster über die Menge des Volkes hin. Wer ihn sah, erschrak, und denen, welche eben noch ein Wort des Mitleids über den armen Jüngling sprachen oder sprechen wollten, erstarb dies auf der Zunge. Es waren Tauende da versammelt, und doch herrschte ringsum Todesstille.

Als der Zug im Tal angelangt war, schlossen die Jäger und Soldaten einen Kreis um Martin und den Hirsch. Wenige Schritte von diesem Kreis entfernt hielt der Markgraf mit seinem Jagdgefolge, damit er bequem zusehen könne, wie der Jüngling auf den Hirsch geschmiedet würde. Denn das sollte mit ihm geschehen. Es war nämlich in jenen Zeiten eine nicht ungewöhnliche Strafe der Wilderer, dass sie auf einen Hirsch gebunden und mit den Händen durch eiserne Bande an das starke Geweih des Tieres angeschmiedet wurden. Darauf ließ man das Wild laufen, das dann mit seiner ungewohnten Last wie rasend über Berg und Tal, durch Wald und Dornen rannte, bis es selbst tot niederstürzte. Diese unmenschliche Grausamkeit, die man aber damals Gerechtigkeit nannte, ist jetzt längst abgeschafft. Der siegende Geist des Christentums hat auch die Gesetze beeinflusst und sie veredelt und menschlicher gemacht.

Martin war schon gebunden, der Hirsch von allen Seiten eingeengt und festgehalten. Daneben stand der Schmied. Die beiden Bänder hielt er in der Hand, womit die Arme des Unglücklichen gerade am Knöchel oberhalb der Hand an das Geweih geschmiedet werden sollten. Da entstand auf einer Seite in der Menge der Zuschauer eine neue Bewegung. Die Masse teilte sich und hervor trat die Witwe Brendel, ihre drei kleinen Kinder an der Hand, zwei Mädchen von neun bis elf und einen Knaben von höchstens fünf Jahren. Sie war bisher noch in einiger Entfernung geblieben und hatte immer gehofft, es werde der Gnadenruf aus dem Munde des Markgrafen selbst ergehen. Sie konnte nicht glauben, dass man einen unschuldigen Sohn einer armen Witwe so grausam zu Tode martern werde. Nun aber sah sie, dass es mit der Strafe furchtbar ernst werden sollte. Sie gewahrte auf dem Gesichte des Fürsten noch kein Zeichen der Milde. Da drängte sie sich mit ihren Kindern eilend durch die Menge, die ihr Platz machte. Martin sah seine Mutter noch nicht, aber er hörte sie und die Kinder laut weinen, und jetzt trat auch ihm die erste Träne ins Auge. Doch er biss die Zähne zusammen, schaute gen Himmel und weinte nicht.

Des Markgrafen Gesicht verfinsterte sich noch mehr, als er die Frau mit den Kindern sah. Sie aber achtete nicht darauf, sondern trat hinzu, warf sich samt ihren drei Kindern weinend vor dem Pferd des Markgrafen nieder und rief so laut, wie es ihre von Tränen erstickte Stimme zuließ: „Gnade, Herr Markgraf, Gnade!“

Weib, was willst du von mir?“, rief jener. „Deinem Buben widerfährt, was recht ist. Er hat mein Gebot übertreten und noch bösen Trotz bewiesen. Ich will an ihm ein Exempel geben, wie ich solche Frevel strafe, auf dass keiner sich eines ähnlichen unterstehe.“

Gestrenger Herr“, entgegnete die Witwe, „mein Sohn ist unschuldig an dem, des er beschuldigt worden ist.“

Wirst du schweigen, alte Lügnerin!“, donnerte der Fürst.

Die Schuld ist sonnenklar erwiesen.“

Das arme Weib wusste wohl, dass sie jetzt nicht mehr widersprechen dürfe, wenn sie den Zorn des Fürsten nicht aufs Höchste reizen wollte. Daher sprach sie in demütigem Ton.

Ach, lieber Herr, wenn mein Sohn auch schuldig ist, so seid wenigstens doch barmherzig. Lasset Gnade für Recht ergehen und strafet uns nicht so entsetzlich hart. Sehet, ich bin eine arme Witwe, und diese drei Kinder sind hilflose Waisen. Was sollen wir anfangen, wenn Ihr den tötet, der uns ernähren soll? Seid barmherzig, Herr Markgraf! Strafet ihn und uns auf andere Weise, nur lasst ihn leben. Sehet, wir alle wollen unser Leben lang wie Knechte und Mägde Euch dienen. Was Ihr befehlen werdet, wollen wir tun und dabei täglich Gott für Euch bitten, dass er Euch gesund und glücklich erhalte und Euch dermaleinst selig mache.“

Ha, alte heuchlerische Schwester,“, rief er, „kommst du wieder auf deinen gewöhnlichen Ton? Singst du dein altes Lied? Fort mit dir! Ich will nichts weiter hören, ich bedarf deiner Gebete nicht. Über der Tür deiner Hütte stehen Bibelsprüche, aber darinnen wohnt Diebsgesindel. Alte Diebshehlerin, ich kenne deine Frömmigkeit. Ich bin noch allzu gnädig gegen dich, denn du hättest dein Leben verwirkt wie dein Bube.“

Ach Herr“, sagte die Witwe schnell, „so strafet mich und gebt meinen Martin frei, dass er für die Kinder sorge.“

Meinst du?“, rief der Markgraf höhnisch. „Du irrst, Weib. Und nun packe dich fort, oder ich lasse meine Hunde auf dich hetzen.“

Tut es, Herr“, sprach die Mutter, „nur lasst meinen Martin nicht auf den Hirsch schmieden.“

Aha!“, spottete der Fürst, „Weißt du nun, wer dein Herr ist, und wer dir helfen könnte in der Not?“

Die Witwe, welche sogleich erkannte, dass dies in Beziehung auf den Bibelspruch über ihrer Haustür gesagt sei, antwortete:

Ich habe in meinem Leben noch vor niemand gekniet, als vor meinem Gott; aber sehet, ich knie vor Euch und bitte um Gnade und Barmherzigkeit, nicht für mich, sondern für mein Kind. Ja, Ihr seid auf Erden mein Herr, und ich ehre Euch als die Obrigkeit von Gott über uns verordnet. Ihr sollt Recht sprechen an Gottes statt; übet aber auch Gnade und Erbarmen wie er, wenn Ihr wünschet, dass Gott sich einstens Euer erbarme.“

In den Ohren des Fürsten war dies wieder eine harte Rede, und er rief zornig: „Schaffet das unverschämte Weib und ihre heulende Brut fort, oder ich reite sie nieder!“

Schon wollten sich einige Diener nähern, aber die Witwe warf sich im höchsten Schmerz vor das Pferd, also dass ihr Kopf beinahe die Hufe desselben berührte. „Herr Markgraf“, jammerte sie, „lasset die Hufe Eures Rosses mich zertreten, aber gebt meinen Sohn los. Und wollet Ihr nicht, so reitet zu, dass ich vor ihm sterbe und sein schreckliches Ende nicht mit ansehen muss.“

Martin hatte das alles mit angehört. Obgleich er seine Mutter nicht sehen konnte, war er außer sich vor Schmerz. Er rief laut:

Mutter, Mutter, erniedrigt Euch nicht so tief. Er hat ein Herz wie Stein. Lebt wohl, Gott wird uns rächen.“

Das Volk umher, das sich der Tränen nicht erwehren konnte, war still wie das Grab; jetzt aber tönte in den hintersten Reihen der Ruf: „Gnade!“ Der Markwart erhob sich im Steigbügel und schaute mit einem furchtbaren Blick umher. Er sprach kein Wort, aber er bebte vor Zorn. Auch das Volk verstummte wieder.

Auf den Hirsch mit ihm!“, schrie er sodann. Und die Jäger ergriffen den Jüngling, legten ihn auf das Wild und banden ihn fest. Schon hörte man die Hammerschläge, mit denen der Schmied die Nägel an den eisernen Bändern festnietete. Auch die Mutter hörte diesen furchtbaren Ton. Sie erhob sich. Sie weinte nicht mehr; sie starrte den Markgrafen an, reckte die Hand gegen ihn aus und rief in einem Ton, der dem Volk durch Mark und Bein ging: „Herr Markgraf, sein Blut komme über Euch! Irret Euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten. Vor seinem Richtstuhl will ich Euch einst verklagen; ja, er wird uns rächen!“

Alle, die es hörten, erstarrten. Der Markgraf ließ diesmal seinem Zorn nicht freien Lauf, und obgleich es in seinem Inneren kochte, so zwang er sich doch zu lächeln. Er gab seinen Dienern einen Wink, die Frau nach dem Schloss zu führen. Die unglückliche Mutter wurde fortgeführt, die drei heulenden Kinder aber mit Peitschenhieben von ihr getrieben. Martin sah und hörte davon nichts mehr. „Halt aus!“, rief seine Mutter noch einmal laut,

Halt aus, der Herr ist bei dir!“

Jetzt ließ sie sich fortziehen. Ihre Knie wankten. Als sie eine kleine Strecke vorwärts gegangen, oder vielmehr geschleppt worden war, hörte sie hinter sich ein Getöse. Sie schaute sich um: Der Markgraf hatte die Hand erhoben, der Kreis der Jäger und Soldaten war geöffnet, und der Hirsch mit ihrem Sohn auf dem Rücken jagte in rasender Eile davon. Besinnungslos sank sie zusammen.