Neuer Glaubensfrühling

„Station S. !“, rief der Schaffner die Wagenreihe entlang und öffnete dabei auch die Tür des Wagenabteils, in dem Meta Teuthorn schon längst zum Aussteigen gerüstet war. Sie hatte schon eine Weile am offenen Fenster gestanden und mit sinnenden Augen in die erwachende Frühlingslandschaft hinausgeschaut. Die herrliche Gebirgsgegend, in die sie eingefahren war, schien ihr einen aufmunternden Willkommensgruß entgegenzutragen. Ihrer schwachen Gesundheit wenigstens würde dieser waldreiche Aufenthaltsort sehr gut tun. Sie hoffte davon neue Stärkung, die sie zu dem Maße ihrer hiesigen Pflichten körperlich ausreichend befähigte. Wie es allerdings mit der Heimat der Seele stehen würde, die sie schon solange sehnend suchte, hatte sie keine Ahnung. Ob auch hier das alte, erfolglose Ringen sich endlos weiterspinnen würde, vielleicht gar im Kampfe mit offenbaren Gegenmächten?

Sie seufzte plötzlich tief auf. Vor ihrem Geiste stieg das Bild einer alten grilligen Frau empor, die ihres herben Loses wegen mit Gott und aller Welt zerfallen, wahrscheinlich ganz erbittert war, sodass sie ihre Umgebung beständig mit allerhand Launen quälte, die auch über sie hinwegfluten würden. Würde es ihr da möglich sein, sie alle geduldig zu tragen, wo sie solch ein empfindsames Gemüt besaß, das ohnehin von der letzten Krankheit her doppelt reizbar und leicht verletzlich geblieben war? Wieder musste sie unwillkürlich die Blicke aufwärtslenken und leise beten: „Gib du mir Kraft, o Gott! Mir selber will so bange werden.“

In diesem Augenblick war der Zug auf dem überdachten Bahnhofsteig eingefahren und das träumende Besinnen war vorüber. Jetzt trat die lebensvolle Wirklichkeit an sie heran, in der sie handeln musste. Mit einer raschen Bewegung war sie ausgestiegen und sah sich suchend an dem unbekannten Orte um, wo sie sich erst zurechtfragen musste, um an die bestimmte Adresse zu gelangen. Doch da trat schon ein freundlich aussehendes Mädchen im weißen Dienstbotenhäubchen auf sie zu und fragte artig, ob sie Fräulein Meta Teuthorn sei, die zu Frau Justizrat Roland wolle.

Auf ihr zustimmendes Kopfneigen hatte das junge Ding bereits dienstfertig nach ihrem Handtäschchen gegriffen und geleitete die junge Dame zuerst bis hin zu einer Droschke, in die sie schon einzusteigen bat, während sie selbst noch den Reisekoffer besorgen wollte. Meta reichte ihr den Gepäckschein und bald brachte ein Dienstmann ihr Passagiergut zum Wagen. Das Mädchen erledigte auch diesem gegenüber im Auftrag ihrer Dame alles Nötige und nahm dann selber bescheiden auf dem Rücksitz des Wagens Platz.

„Ich heiße Minna!“, sagte sie sich dabei vorstellend. „Wenn Fräulein etwas wünschen, brauchen Sie es mir nur zu befehlen, ich stehe auf Wunsch von Frau Justizrat jetzt ganz unter ihrer Leitung.“ Meta sah das junge Mädchen überrascht an und entgegnete dann freundlich: „Ich werde Sie darum bitten, wenn ich etwas brauchen sollte.“ Diese ihr neu in den Gesichtskreis getretene Minna hatte trotz ihrer großen Dienstwilligkeit etwas an sich, was nicht zum Befehlen, sondern weit eher zum Freundlich-mit-ihr-reden reizte. Meta sah sie im Weiterfahren mehrmals verstohlen an. Das Mädchen sah nicht aus, als ob sie viel unter den Launen einer verbitterten Herrin zu leiden habe. Es wurde ihr bei diesem tröstlichen Anblick etwas leichter ums Herz. Wenigstens sah sie dann doch ein Gesicht in diesem Hause, das Freundlichkeit ausstrahlte. Das war schon etwas wert.

Der Wagen war unterdes außen um die Stadt durch den schattigen Promenadenweg gerollt und hielt nun vor dem Gartentor eines hübschen Landhauses, das freundlich aus dem lichten Grün der frisch belaubten Bäume grüßte. Im Garten arbeitete ein älteres Ehepaar, das mit höflichem Gruß herantrat und sich der größeren Gepäckstücke bemächtigte, während Minna ihr neues Fräulein den langen Mittelgang hinauf bis ins Haus geleitete. Sie führte sie zuerst in ein freundliches Erkerstübchen, das fortan ihr eigenes kleines Reich bilden sollte. Dann zog sie sich mit dem Bedeuten zurück, das Fräulein möge nach ihr klingeln, wenn sie sich erfrischt und genügend ausgeruht habe.

Dann wolle sie wiederkommen, um sie zu Frau Justizrat zu führen.

Meta sah sich nach ihrem Weggang zuerst in dem sonnigen Zimmer um. Wie reizend alles eingerichtet war, einfach, aber anheimelnd traulich! Und so einladend frisch sah alles aus, dazu sogar noch festlich zu ihrem Empfang geschmückt. Auf dem Mitteltisch prangte ein großer, blühender Blumenstock und zwischen den weißen Gardinen standen verschiedene Vasen, mit duftenden Frühlingsblumen gefüllt. Meta war ganz bewegt von diesem freundlichen Willkommensgruß im fremden Haus. Einen noch tieferen Eindruck aber machte es auf sie, als sie an den Wänden christliche Bilder und über der Eingangstür einen großen Wandspruch entdeckte, von dem ihr in leuchtenden Goldbuchstaben das Wort aus dem Propheten Jeremia entgegenschaute: „So ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der Herr!“

Meta war es, als ob ihr einen Augenblick das Herz stillstände vor staunender Überraschung. Sie presste die Hand fest darauf, während ihr Blick wie gebannt an diesen wunderbaren Verheißungsworten hing, die ihr schon von Jugend auf eine so flammende Sehnsucht nach dem lebendigen Gott ins Herz brannten.

Konnte das bloßer Zufall sein oder war der Spruch mit Absicht hingehängt? Beides schien ihr gleich unmöglich, zumal das letztere, denn die Herrin dieses Hauses kannte sie ja gar nicht. Und das erstere? War es statt Zufall vielleicht gar Gottes Stimme?

In Metas Kopf begannen die Gedanken sinnverwirrend durcheinanderzuwirbeln. Doch plötzlich strich sie sich tief aufatmend über die Stirn, sie hatte sich auf ihre neue Pflichten besonnen. Mit doppelter Eile machte sie sich daher zur Begrüßung ihrer neuen Herrin zurecht und klingelte nach Minna. Diese holte sie mit ihrem wohltuend freundlichen Gesicht ab, um sie zu der Dame des Hauses zu führen.

Meta wollte doch das Herz wieder ein wenig bange klopfen, als das Mädchen die Stubentür öffnete, hinter der sie im nächsten Augenblick ihrer neuen Gebieterin entgegentreten musste. Wie würde diese sie empfangen, sie, die Fremde, von der sie gar nicht einmal wusste, wie sie aussah? Und wie würde sie selber die Blinde vorfinden, alt, griesgrämig und gebrechlich?

„Frau Justizrat, Fräulein Teuthorn ist angekommen und wünscht Sie jetzt zu begrüßen“, meldete das Mädchen und zog sich gleich danach rücksichtsvoll wieder zurück.

Aus dem weichen Lehnstuhl am Fenster erhob sich eine noch stattliche Dame mit silberweißen Haar, das ein feines, bleiches Antlitz umrahmte, aus dem Meta ein Paar groß aufgeschlagene, tiefblaue Augen entgegenschauten. Konnte es denn möglich sein, dass diese ausdrucksvolle Augen, die ihr bis auf den Grund der Seele hinabzutauchen schienen, blind waren? Meta wurde es ganz wundersam zumute in der Gegenwart dieser verehrungswürdigen Gestalt, die etwas so menschenfreundlich Wohlwollendes und doch dabei Ehrfurcht gebietendes an sich hatte. Das junge Mädchen fühlte sich sofort zu ihr hingezogen. Ein Gefühl warmer Verehrung wallte in ihr auf. Und dem ersten raschen Impuls Raum gebend, eilte sie auf die alte Dame zu und beugte sich auf die dargebotene Hand herab, um sie ehrerbietig zu küssen. Ein leises Lächeln huschte dabei um die feinen Lippen der Blinden. Dann entzog sie ihr sanft die Hand und legte sie wie segnend auf Metas junges Haupt.

„Wir wollen unser Beisammensein in Jesu Namen beginnen. Gebe Gott, dass es ein segensreiches und dauerndes werden möge!“, sagte sie bewegt und fügte dann in herzlicher Anteilnahme hinzu: „Sie haben schon so früh Ihre Mutter verloren, armes Kind! Wie gern möchte ich sie Ihnen ein wenig zu ersetzen suchen! Betrachten Sie mich nur gleich von Anfang an als eine mütterliche Freundin, in deren Haus und Herzen Sie eine zweite Heimat finden sollen.“

Meta wusste gar nicht, was sie zu diesem Empfang sagen sollte, sie war ganz überwältigt davon. Sie hatte erwartet, die Frau Justizrat würde sie in vornehm kühler Art in ihre Pflichten einweihen. Und stattdessen war ihre erste Sorge, dass das junge Mädchen mutterlos war und Liebe und anlehnenden Schutz bedurfte. Nicht an sich selbst, sondern an sie, von der sie rücksichtsvolle Pflege beanspruchen konnte, hatte sie zuerst gedacht. Meta musste diese selbstverleugnende Liebesäußerung unwillkürlich mit dem Ausspruch „in Jesu Namen“ in Verbindung bringen, als hätte sie darin ihren Ausgangspunkt gefunden.

Im Diakonissenhaus hatte man doch auch alles in Gottes Namen getan, aber das Herz war dabei kalt und liebearm geblieben. Dort war nur Form und hier war Leben, das war der Unterschied.

Meta musste sich nun zu der alten Dame in die lauschige Fensterecke setzen und ihr von daheim und ihrer Anreise erzählen, während Minna den Tisch deckte und das Abendbrot auftrug. Als alles angerichtet war, führte Meta die Blinde fürsorglich an den Tisch und ließ sie dort sanft in einen für sie bereitstehenden leeren Stuhl gleiten. Dann schenkte sie ihr Tee ein und machte ihr rasch und geschickt ein belegtes Brötchen zurecht. Sie hatte gleich in der ersten Stunde erkannt, welche Handgriffe die blinde Dame allein zu verrichten gewohnt war und wo sie dieselbe zart unterstützen musste.

„Man merkt, dass Sie Schwester gewesen sind“, lächelte die Justizrätin. „Die haben gleich einen richtigen Blick für alles und verstehen die Wünsche zu erfüllen, ehe man sie ausspricht.“

Meta war beglückt über diese freundliche Anerkennung. Sagte sie ihr doch, dass sie Hoffnung hegen dürfe, sich die Zufriedenheit der von ihr verehrten Dame bald zu erwerben. Diese hingegen war nur immer besorgt, dass sie auch ordentlich zulange und sich stärke, denn sie sei doch gewiss hungrig von der weiten Reise. Auch würde sie müde sein und sollte sich deshalb zeitig zur Ruhe legen und morgen gut ausschlafen. Minna könne sie selbst heute Abend noch einmal zur Ruhe bringen und ihr morgen früh beim Ankleiden behilflich sein.

Nachdem Minna den Tisch wieder abgeräumt hatte, holte sie eine mächtige Bibel in Blindenschrift herbei und legte sie vor die Justizrätin hin. Diese aber sagte freundlich zu Meta gewandt:

„Wir pflegen den Abendsegen immer gleich nach dem Essen zu lesen. Da kann sich dann jeder noch etwas vornehmen und zur Ruhe gehen, wann er will.“

Zu dieser Andacht kamen auch Minna und das ältere Arbeiterpaar herein, das Meta zuerst im Garten sah. Es setzte sie in Erstaunen, dass die Leute extra dazu hereingerufen wurden. Daran hatte man daheim bei aller Frömmigkeit nicht gedacht, dass die Dienstboten auch unsterbliche Seelen hatten.

Unterdessen hatte die Hausherrin in gewohnter Sicherheit den 23. Psalm aufgeschlagen. Sie schickte vor dem Beginnen die freundliche Erklärung voraus, dass sie heute dieses schöne Psalmwort wählte, weil es ihr wie ein froh verheißender Willkommensgruß für das liebe Fräulein Meta erschien, die heute zum ersten Mal den Fuß in ihren Kreis setzte. Dann las sie mit warm zum Herzen dringender Stimme den kurzen, aber inhaltsreichen Abschnitt vor. Wie klang Meta dabei das stark betonte „Er führt mich auf rechter Straße“ so wunderbar tröstend ins Herz! Noch tiefer aber wurde sie bewegt, als die ehrwürdige alte Dame ihre Hände über der großen Bibel faltete und so demütig wie ein einfältiges Kindlein ein vertrauensvoll gläubiges Gebet frei aus dem Herzen sprach. Darin dachte sie heute in ganz besonderer Weise der lieben neuen Hausgenossin, die der Herr ihr zur mütterlichen Fürsorge ans Herz legte. Sie dankte ihm so warm dafür und bat in inbrünstigem Flehen, dass er sie nun reichlich segnen und ihrem Hause auch zum Segen setzen möge. Zum Schluss aber bekräftigten die anderen durch ihr laut nachgesprochenes Amen diese Bitte so nachdrücklich, als läge ihnen selbst das geistliche Wohl ihres lieben neuen Fräuleins aufs Angelegentlichste am Herzen.

Meta fühlte sich förmlich zur Dankbarkeit ihnen gegenüber verpflichtet. Und sie kam gern der Aufforderung nach, die die Dame des Hauses in der Bitte, ihnen noch ein Abendliedchen zu singen, an sie richtete. „Wir werden nun wieder die Freude haben, zu unseren Gebetsliedern begleitet zu werden. Das arme Harmonium hat so lange stumm gestanden“, sagte sie dabei. „Bitte, Fräulein Meta, auf dem Ständer daneben liegen die Noten.“

Das junge Mädchen stand leise auf und griff zu dem oben aufliegenden Choralbuch. Es war ihr, als könne sie nicht anders, als die Antwort auf das Führen auf rechter Straße in dem alten lieben Liede anzustimmen: „Befiehl du deine Wege ...“ Sie sang und spielte einige Verse davon und die anderen lauschten atemlos ihrer glockenreinen Stimme.

„Ich dachte, sie wollten alle mitsingen, darum wählte ich ein solch bekanntes Lied“, stammelte Meta halb verlegen, als sie wieder vom Instrument aufstand, mit einem Blick auf die seltsam gemischte Gesellschaft.

„Heute waren wir des Hörens froh“, lächelte die Justizrätin ihr freundlich zu, „ein andermal stimmen wir auch mit ein.“

Nach dem Abendsegen zogen sich die drei Untergebenen mit ehrerbietigem Gutenachtgruß wieder zurück. Auch Meta verabschiedete sich auf besorgtes Zureden der alten Dame bald danach, um sich frühzeitig niederzulegen. Ihr Schlafzimmer lag neben dem der Hausherrin. Die Verbindungstür war ausgehangen und nur durch eine herabgelassene Portiere verhüllt, damit die Blinde sie bequem rufen konnte, wenn sie während der Nacht ihrer Hilfe bedürfen sollte.

Es war ein freundliches, einfenstriges Stübchen, das nur Bett und Waschtisch, einen Kleiderschrank und Wäschespind wie zwei Stühle barg. Ihr eigenes kleines Wohngemach, in das sie sich in ihren Freistunden zurückziehen konnte, lag droben im luftigen Erker, den sie zuerst betreten hatte.

„Jeder Mensch muss seine stillen Stunden haben, in denen er einmal mit seinem Gott allein sein kann, und unser Haus ist groß genug dazu“, hatte die gütige Hausfrau zu ihrer verständigen Minna gesagt. Diese hatte dann mit geschäftigem Eifer das kleine Reich da droben frisch hergerichtet, das vordem das Mädchenstübchen der jetzt verheirateten Haustochter gewesen war.

Als Meta sich an diesem ersten Abend zur Ruhe niederlegte, war sie tief bewegt über den unerwartet herzlichen Empfang in einem wildfremden Hause. Ja, sie fühlte sich schon beinahe heimisch in diesen ihr so gastlich geöffneten Räumen. Doch es war nicht nur das irdische Wohlbehagen, das sie anheimelnd durchströmte. Wie Heimatgrüße aus der oberen Lichtwelt war es ihr ins Herz herniedergeweht, besonders bei dem so kindlich schlichten und doch packend gehaltenen Abendsegen. Wie war es ihr nur da zumute gewesen! Gerade als ob eine unsichtbare Hand ihr mitten ins Herz hineingriff und alle bis jetzt starr festgehaltenen religiösen Anschauungen plötzlich umdrehte.

Das, ja, das war doch dieselbe Macht, die schon einmal, aber vergeblich, an den verrosteten Angeln ihrer Herzenstür rüttelte, damals in Onkel Eberhards Hause. Unterdes hatte das Leid der Zeit sie schmiegsam eingeölt, sodass sie jetzt leise nachzugeben begannen. Sie faltete unwillkürlich die Hände über der Brust.

„Mit Sorgen und mit Grämen

Und selbst gemachter Pein

Lässt Gott sich gar nichts nehmen,

Es muss erbeten sein“,

ging es ihr plötzlich durch den Sinn. Ja, sie wollte nicht mehr soviel ringen, sie wollte mehr bitten, im Glauben beten. O, wenn sie das erst könnte, so vertrauensvoll kindlich wie die liebe Hausmutter hier, der sie ach, wie schämte sie sich jetzt darum! mit einem solchen Vorurteil begegnet war! „Ich will bei ihr in die Schule gehen“, flüsterte sie vor sich hin.

„Sie wird mir das Herz nicht zuschließen wie die frommen Schwestern Elfriede und Adelheid.“ Mit diesem Gedanken schlief sie tief und fest ein.

Am nächsten Tag richtete sie sich mit ihren Sachen häuslich ein. Es war ihr, als ob sie dabei immer singen müsse, weil sie eine zweite Heimat fand. Bis jetzt hatte das arme Kind sich überall fremd und unverstanden gefühlt. Hier war es ihr, als ob eine neue Luftatmosphäre um sie wehte, in der auch ihre geknechtete Seele frei atmen lernen sollte. Ebenso brauchte sie für ihre schwache Gesundheit nicht besorgt zu sein.

Im Hinterhäuschen des großen Gartengrundstücks wohnten die schon erwähnten Gärtnerleute, die zugleich den Hausmeisterposten versahen und sämtliche gröbere Arbeiten willig auf ihre breiten Schultern nahmen. Alles übrige Wirtschaftliche besorgte Minna, sodass ihr nur die ausschließliche Pflege und Unterhaltung der Dame des Hauses verblieb.

Diese aber machte ihr das Amt wahrlich nicht schwer. Sie übte im Gegenteil noch treue mütterliche Fürsorge über sie aus. Meta war es eine Freude, in der Gegenwart dieser edlen Frau zu weilen und sie mit kleinen Liebesdiensten zu umgeben, die sie alle so rührend dankbar, wie eine ihr erwiesene Wohltat hinnahm. Und dabei war es doch Metas einfache Pflicht und Schuldigkeit, ihr in aufmerksamer Zuvorkommenheit zu dienen.

Wie oft fühlte sich das junge Mädchen tief beschämt von der demütigen Gesinnung dieser innerlich so hoch über ihr stehenden Frau! Je tiefere Blicke Meta in ihr liebevolles Herz, vor allem aber in ihr wirklich gottgeweihtes Glaubensleben tat, um so leerer und ärmer kam sie sich in ihrem eigenen Streben, auch fromm zu leben, vor. Statt des ehemaligen Kräfteaufwandes für gute Werke fühlte sie jetzt ihre gänzliche Ohnmacht, durch solche sich Gott jemals wohlgefällig zu erweisen.

Dazu fingen die kindlich herzlichen Gebete der glaubensstarken Blinden an, sie ernstlich zu beunruhigen. Hatten sie dieselben anfangs erquickt, so schlugen sie ihr jetzt tiefer einschneidend ins Herz hinab. Es war ihr jetzt jedes Mal dabei, als ob ein göttlicher Erkenntnisstrahl ihre Seele durchzuckte, der grelle Streiflichter auf lauter dunkle Punkte darin warf. Sie kam sich plötzlich so schlecht vor, wie noch nie zuvor in ihrem Leben.

Es tauchten allerhand unliebsame Erinnerungen in ihr auf, die ihr unerbittlich vorhielten, wie hochmütig, ehrgeizig, selbstsüchtig, reizbar, empfindlich und anderes mehr sie gewesen sei. Wie eigenwillig und ungehorsam gegen Gott sie oft eigene Wege ging und im Stillen ungeduldig murrte, dass sie trotz aller Anstrengung nicht zum gewünschten Ziele führten. Auch, wie wenig sie mit Liebe die Fehler anderer trug, wie sie ihnen im auflehnenden Trotz begegnete. Oder, wo sie das nach außen hin nicht tun durfte, doch eine übelwollende Gesinnung gegen sie hegte, die sie enttäuscht oder nicht verstanden hatten. Ja, sie hatte sich in Geringschätzung für sie über sie erhoben und gemeint, sie könne ihnen durch größere Heiligkeit ein besseres Vorbild geben – und war mit all diesen Bemühungen so schmählich zuschanden geworden. Auch nicht einen guten Vorsatz war sie imstande gewesen hinauszuführen – alles nur elendes Machwerk, das vor Gottes Flammenaugen nicht bestehen konnte, weil es keinen reinen Gewissensgrund hatte.

Das Register ihrer zahllosen Vergehen wollte gar nicht aufhören. Immer wieder fiel ihr etwas neues Sündhaftes ein, sobald sie in der Nähe dieser geheiligten Persönlichkeit weilte. Sie trug ihr schweres Leiden mit einer Geduld und Gottergebenheit, die Meta gar nicht genug bewundern konnte. Nie kam eine Klage über ihre Lippen, immer nur Lob und Dank, dass der Herr sie so wunderbar führte. Und wenn er ihr auch das Augenlicht nahm, so sei doch sein Wille heilig und gut gewesen, denn ihr Leiden sei das Mittel geworden, dass sie jetzt Jesu Herrlichkeit schauen dürfe, die sie sonst wohl nie erkennen würde. Es tönte mitten in all der irdischen Dunkelheit der Lobgesang Hiobs von ihren Lippen: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt!“

Einmal konnte sich Meta bei ihrem förmlich verklärten Anblick doch nicht enthalten zu fragen, wie es ihr nur möglich sei, das traurige Los der Blindheit nicht nur so geduldig, sondern sogar freudig zu tragen.

„Ja, Kindchen, in mir selbst liegt nicht die Kraft dazu, die gibt mir mein Jesus von einem Tag zum anderen wieder aufs Neue. Vordem war’s auch nicht so bei mir. Da habe ich auch gar manchmal unmutig in den harten Fesseln geknirscht. Aber seitdem sein teures Blut mich rein von meinen Sünden wusch, da kann ich ihm vertrauen, dass er alles wohlmachte. Und ich kann ihn auch in der Blindheit preisen, die das göttliche Erziehungsmittel für die Vollendung meiner Ewigkeitsbestimmung ist.“

Meta dachte, sie hörte nicht recht, als diese edle Frau, an der sie kaum einen Fehler zu entdecken vermochte, von ihren Sünden sprach. Und plötzlich fiel ihr dabei die letzte Botschaft ihren toten Mutter ein, in der auch sie sich als eine große Sünderin bekannte. Sie musste das eben Gehörte unwillkürlich in Vergleich dazu bringen. Onkel Eberhard hatte in seinem Trauerbrief geschrieben, dass die Mutter zu Jesu gegangen sei, seltsam – nachdem sie eine Sünderin geworden war. So musste man also erst eine solche werden, um den Herrn finden zu können, den sie schon so lange auf dem Wege der eigenen Gerechtigkeit vergeblich suchte? Das wollte ihr doch gar zu wunderbar erscheinen!

Als die Frau Justizrat dann später ein wenig ruhen wollte, durfte Meta sich inzwischen in ihr stilles Stübchen droben zurückziehen. Das war ihr heute besonders willkommen, denn auch sie hatte das lebhafte Bedürfnis, allein zu sein mit den sie tief beschäftigenden Sorgen, die zuletzt in ihrer Seele emporgestiegen waren. Gedankenvoll schritt sie die Treppe empor.

Da traf leiser Gesang ihr Ohr. Als sie aufsah, fiel ihr Blick auf Minna, die beim Fensterputzen im Vorsaal fröhlich vor sich hinsummte:

„Es ist ein Born,

draus heil’ges Blut

Für arme Sünder quillt.“

Das junge Mädchen blieb lauschend stehen. Und ihren Gedanken unwillkürlich Ausdruck gebend, fragte sie lebhaft interessiert: „Minna, wissen Sie auch, wie man solch ein armer Sünder wird, von dem Sie da in Ihrem schönen Lied singen?“

„Wenn man sich als solcher erkennt, Fräulein!“, war die prompte Antwort.

Meta nickte ihr flüchtig zu und verschwand rasch in ihr kleines Heiligtum hinein. Dort fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. So hatte es die teure Mutter gemeint? Also sich als Sünder erkennen, das war der Schlüssel zu der bisher unverstandenen göttlichen Aufforderung an sie. Jetzt wusste sie auch auf einmal, warum ihr in der letzten Zeit alles so quälend aufs Gewissen gefallen war, was sie nicht recht getan hatte. Das alles war also Sünde vor Gott, und deshalb war es ihr nicht möglich gewesen, ihm nahezutreten!

Wie eine Zentnerlast fiel es ihr plötzlich auf die Seele: „Eure Sünden und eure Untugenden scheiden euch von eurem Gott.“ Wie sollte sie die jemals wieder gutzumachen suchen? Das armselige Machwerk ihrer vermeintlichen guten Werke hatte ihr nicht dazu verholfen, das hatte sie Gott umsonst gebracht. Es war wie ein Nichts zerstoben vor dem Hauch seines Mundes. Das hatte sie längst erkannt. Und doch fühlte sie, dass er eine Heiligkeit und Gerechtigkeit forderte, die sie ihm nun und nimmermehr zu bringen vermochte. Sie sah nur hilflose Ohnmacht und die Unmöglichkeit, sich vor weiteren Sünden zu schützen. Jeder Tag würde neue hinzufügen, und dadurch würden sie immer höher anschwellen bis zum Tage des Gerichts. Und dann, o dann war sie auf ewig verloren, wie die sterbende Frau im Krankenhaus es ihr so schauerlich zurief, verloren trotz aller Frömmigkeit!

Seit jenem Tag trug sie schwer an ihrer Sündenlast. Bei allem, was sie tat, verfolgte sie der Gedanke: Wenn du jetzt stirbst, kannst du nicht vor Gott bestehen. Es war nicht mehr so wie früher, dass sie das leere: „Ich hoffe es!“ und: „Ich weiß es nicht!“ nur unbefriedigt ließ. Die Gedanken von der Ewigkeit begannen sie jetzt in erschreckender Weise zu ängstigen. Während sie erst noch immer meinte, sie könne Gott versöhnen durch strenge Frömmigkeit in Wort und Tat, fing sie jetzt an, sich vor ihm zu fürchten, und hatte das beständige Angstgefühl, als ob sie sich wie Adam vor ihm verstecken müsse. Sie musste sogar oft bitter über Sünden weinen, ohne dass sie sah, dass sie dadurch kleiner geworden wären. Auch die heißesten Tränenfluten vermochten sie nicht hinwegzuwaschen.

Dieser seelische Druck legte sich naturgemäß auch auf ihr ganzes Wesen. Und obwohl sie ihrer verehrten Herrin gegenüber die äußerste Selbstbeherrschung übte, hatte diese doch mit ihrem feinen Empfinden herausgefühlt, dass Meta im innern litt. Sie dachte erst, das junge Mädchen hätte Heimweh und suchte ihr daher mit doppelter mütterlicher Fürsorge das Weilen in ihrem Hause angenehm und traut zu machen, damit es sich ganz wie ein Kind darin fühlen sollte.

Aber bald merkte sie, dass der Grund tiefer lag, dass Meta Seelenkämpfe hatte. Es war ihr vorgekommen, als ob gerade dann, wenn sie von göttlichen Dingen sprach oder wenn sie sich gedrungen fühlte, besonders herzlich für die junge Hausgenossin zu beten, deren Stimme allemal so seltsam verschleiert klang, als ob sie geweint habe. Und wenn die blinde Dame ihr auch nicht in das betrübte Antlitz sehen konnte, so verstand sie doch wunderbar, in anderer Herzen zu lesen. Es war ihr klar geworden, dass der Geist Gottes in Metas jungem Herzen sein Werk begann. Doch sie besaß als gereifte Christin nicht nur diese feine Beurteilungsgabe, sondern sie hatte sich vom Herrn auch Weisheit schenken lassen. Jene Weisheit, die so selten ist, die nicht vorzeitig mit begehrlicher Hand in holde Blütenträume greift und schon Früchte brechen will, wo sich noch kaum die ersten Knospen erschlossen haben. Sie ließ sie vorerst nur ihre teilnehmende Liebe empfinden und suchte langsam ihr Vertrauen zu erwerben, um sie dadurch zu ungezwungener Aussprache ihrer Kämpfe zu bewegen, in denen sie ihr dann freundlich zurechthelfen wollte. Und wie wohl tat dem jungen Mädchen dieses mütterliche Schutz- und Haltbieten! Es bot ihm Veranlassung zum vertauensvollen Anlehnen, und das Herz erschloss sich von selber, um Antwort auf die brennenden Fragen zu suchen, die es im tiefsten Grunde bewegten.

Ganz ungesucht kam das Gespräch jetzt öfter auf göttliche Dinge, wenn die beiden zusammen in der lauschigen Fensterecke saßen oder Meta die blinde Dame fürsorglich am Arm draußen in der herrlichen Frühlingswelt spazieren führte. An deren wonnigem Wiedererwachen erquickte sie sich dankbar, wenn ihr auch das Schönste davon, der Anblick der wogenden Blütenpracht, nicht vergönnt war.

„Sehen Sie, Kindchen, so ist es auch mit dem Atmen der Seele, die aus dem Winterschlaf der Sünde zu erwachen beginnt“, sagte die Justizrätin auf einem solchen Spaziergang, als Meta ungewollt in das mitleidige Bedauern ausgebrochen war, dass sie das alles nicht sehen könne. „Auch diese fühlt den Zug der ewigen Liebe, die sie mit einer neuen Lebensatmosphäre umgibt. Aber ihre Augen sind noch gehalten, dass sie die Herrlichkeit der oberen Lichtwelt nicht zu sehen vermag.“

Wie wunderbar hatte die Blinde mit diesem Vergleiche den Seelenzustand des jungen Mädchens getroffen! Und dieses ging sofort mit vollem Verständnis darauf ein, indem es sagte: „Ja, dort hinüber sehen Sie, und ich bin blind.“

Eine Weile gingen beide im nachdenklichen Schweigen nebeneinander her. Jedes fühlte die Wahrheit des eben Gesprochenen. Da hob Meta, der das Herz brannte, plötzlich von neuem an:

„Frau Justizrat, sind denn eigentlich alle Menschen Sünder? Ich dachte früher immer, es gäbe zwei Sorten: gute, fromme und gottlose, böse Leute. Und die ersteren kämen in den Himmel und die anderen in die Hölle.“

„O, dieser traurige Irrtum, in dem man noch immer die Menschenkinder großzieht“, klagte die Justizrätin leise. Dann fügte sie ernst hinzu:

„In dieser Beziehung gibt es bei Gott keine Rangunterschiede. Ob fromm oder gottlos, gut oder böse, wir alle sind von Natur aus Sünder, die Gottes Zorn in irgendwelcher Art herausforderten und deshalb die ewige Verdammnis verdient haben. Denn keiner kann der Heiligkeit und Gerechtigkeit genügen, die Gott von uns fordert.“

„Ich wenigstens kann es nicht“, sagte Meta tief erschrocken, „und muss deshalb vielleicht auf ewig verloren gehen.“

Da drückte die mütterliche Freundin den Arm des traurigen jungen Mädchens fester an sich und sagte liebevoll tröstend: „Mein liebes Kind, wir haben dennoch eine Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Und die hat sein lieber Sohn für uns vollbracht, der uns aus Sündern zu seligen Gotteskindern machen kann durch den Akt der Wiedergeburt.“

„So sind also nicht alle getauften Menschen wiedergeboren?“, fragte Meta in großer Erregung weiter. „Mir hat man immer eingeschärft, ich dürfe mich nur auf die als kleines Kindlein empfangene Taufgnade verlassen, um Anspruch auf das Wiedergeburtsrecht und die ewige Seligkeit zu erheben.“

Die alte Dame seufzte tief auf. „O, dieses sanfte Schlummerkissen, auf dem man die armen, betrogenen Seelen ruhig ins Verderben hinüberschlafen lässt! Nein, glauben Sie es mir, solch kleines Wesen kann noch nicht die Verantwortung für seine schon von Geburt aus verderbte Sündennatur übernehmen. Und ebenso wenig kann die Wiedergeburt ein durch die Taufe vollzogenes, äußerliches Zeichen sein. Sie ist ein göttlicher Akt, der in unser zum vollen Bewusstsein erwachtes Geistesleben hineingreift und zu dem auch unser menschlicher Wille gehört. Eine Altersgrenze ist dafür allerdings nicht gezogen. Es kommt ganz darauf an, wie spät oder früh sich der Mensch durch das Wirken des Heiligen Geistes erleuchten und überzeugen lässt, dass er ein verdammungswürdiger Sünder ist. Und sobald er sich durch eine ganze Wendung, die man Bekehrung nennt, von der Welt und Sünde zu seinem Gott hinnaht und im Namen Jesu, dessen teures Blut für ihn geflossen, um Erbarmen fleht und die Vergebung seiner Sünden erlangt, kann von Gottes Seite aus die Wiedergeburt in Kraft treten. Sie, wie schon ihr Name sagt, schafft in uns ein neues Leben, in dem wir dann gottgewollt zu handeln und wandeln vermögen. Die Kraft, über die Sünde zu herrschen, fließt uns dann von oben zu, denn aus unserer alten Natur können wir sie trotz der angestrengtesten Bemühungen nimmermehr ziehen.“

Meta schwieg auf diese letzte Rede. Sie hatte nichts mehr zu fragen, denn sie hatte für jetzt genug daraus erkannt. Vergebung der Sünden musste sie also haben, wenn sie zum Frieden mit Gott kommen wollte. Nun sprang der Verständnisschlüssel zu ihrer Mutter letzten Botschaft noch vollends im Schlosse herum. Nicht, weil sie eine Sünderin wurde, war sie ins Himmelreich eingegangen, sondern weil ihr Erbarmung widerfahren war. Auch die teure Frau Justizrätin sprach von ihren Sünden wie von etwas Gewesenem, auch sie war durch die Erlösung davon ein seliges Gotteskind geworden. Meta hatte wohl jetzt die volle Erkenntnis des Heilsweges erfasst, aber sie hatte noch nicht die beglückende Erfahrung davon gemacht.

Seit jenem Tag ging ihr ganzes Trachten darauf, wie sie Frieden – wahren, bleibenden Frieden der Seele erlangen könne. Ihre jahrelange tiefe Sehnsucht, Gott zu nahen, wurde immer brennender und größer, ja, sie ging jetzt noch weit über das anfängliche Ziel hinaus. Sie musste eins werden mit diesem Gott, den sie bisher nur gefürchtet, aber nicht wirklich geliebt hatte, wie es ihr jetzt klar geworden war. Tief in die göttlichen Geheimnisse seines Erlösungsplans hineinschauen, in Übereinstimmung mit seinem Willen zu stehen und seinen Liebesrat auch an sich vollzogen zu sehen, das war es, wonach sie mit ganzer Inbrunst der Seele verlangte. Ihr stilles Stübchen droben wusste jetzt von manchem Gebetskampf zu erzählen, den sie auf den Knien ausfochte. Dort rang sie oft stundenlang flehentlich mit Gott, ihrer Sünden nicht mehr zu gedenken, die sie nicht zur Ruhe kommen ließen. Es war ihr tiefer Ernst, Vergebung zu erlangen. Und sie klammerte sich dabei fest an die göttliche Verheißung, die ihr droben über der Tür so aufmunternd entgegenleuchtete: „So ihr mich von ganzem Herzen sucht, so will ich mich finden lassen.“

Drunten aber schlug ein mütterliches Herz für sie, das sie treulich mit durchbetete. Die blinde Justizrätin sah die geistliche Entwicklung in der jungen Seele, die so merkwürdig lange und schwer kämpfen musste, ehe sie zu dem ersehnten Ziele kommen konnte. Sie trug treulich mit ihr und suchte sie in nimmermüder Geduld hinzuweisen auf die große, unendliche Liebe des Gottessohnes, der gekommen sei, um zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

Eines Tages, als sie wieder, wie so gern um diese Zeit, vereint in ihrem trauten Fenstereckchen saßen, wo Meta der alten Dame ein gutes Buch vorlas, unterbrach diese die Unterhaltungslektüre plötzlich mit der freundlichen Bitte: „Ach, möchten Sie mir jetzt nicht lieber ein Liedchen vorsingen? Ich habe Sie eigentlich lange nicht mehr so aus voller Kehle singen hören, wie Sie es zu Anfang so gern bei mir taten. Ein recht frisches, schönes Liedchen, was die Herzen wieder fröhlich macht.“

Es war nicht Laune, was die Justizrätin veranlasste, so plötzlich ihren Wunsch zu wechseln, sondern zarte Liebe. Sie hatte Meta unterbrochen, weil sie den traurigen Tonfall ihrer Stimme nicht mehr hören konnte. Sie fühlte, das es dem jungen Mädchen jetzt eine Qual war, vorzulesen, wo ihre Seele wieder von schweren Kämpfen bewegt sein musste. Daher dachte sie ihr eine Erleichterung zu bieten, wenn sie ihr Gelegenheit gab, sich die Last vom Herzen herunterzusingen. Das hatte sie schon manchmal wieder froh gemacht.

Meta legte sofort das Buch weg und stand gehorsam auf. „Ich möchte so gern Ihren Wunsch erfüllen, Frau Justizrat, aber ich fürchte, dass ich heute kein fröhliches Lied zu singen vermag, ich bin nicht aufgelegt dazu“, gestand sie ehrlich.

„Nun, dann singen Sie eins, das gerade zu ihrer Stimmung passt, Herzchen. Vielleicht tut es Ihnen doch gut, sich in Tränen auszuweinen.“

Da merkte Meta erst, dass ihr die Rücksicht galt, und sie war tief bewegt davon. So verstand also die Blinde, die ihr nicht ins Antlitz sehen konnte, den tiefen Sehnsuchtsschrei ihrer Seele auch in der Musik. Noch keiner hatte ihn bis jetzt herausgehört. Hier aber hatte sie ein Herz gefunden, das wirklich mit ihr litt und ihr begegnete bis in die feinsten Regungen hinein. Da gab es für Meta auch kein Zurückhalten mehr.

Sie eilte rasch in ihr Stübchen hinauf und holte sich ihr Lieblingslied, die große Mendelssohnsche Arie herunter. Leise setzte sie sich damit ans Instrument, dem sie erst ein sanftes Präludium entlockte, dann schwebte es in tief bewegten Tönen durchs Gemach: „So ihr mich von ganzem Herzen sucht, so will ich mich von euch finden lassen.“ Herzergreifend klang die wiederholte sehnsuchtvolle Klage dazwischen: „Ach, dass ich wüsste, wie ich ihn finden und zu seinem Stuhle kommen möchte!“ So tief zum Herzen sprechend hatte Meta noch nie gesungen. Als sie aber an die Stelle kam: „Zerreißt eure Herzen und nicht eure Kleider“, da erstickten Tränen ihre Stimme und der Gesang löste sich in herzbrechendes Schluchzen auf. Es war ihr, als müsse sie weit, weit weglaufen bis an das Ende der Erde, um sich dort mit ihrem Kummer zu vergraben. Doch da tönte schon der mitleidsvolle Zuruf an ihr Ohr: „Mein armes Kind, o kommen Sie doch her und weinen Sie sich am treuen Mutterherzen aus.“

Und Meta folgte diesem sanften Liebeszuge, durch den der Herr sie trösten ließ. Sie setzte sich der edlen Frau zu Füßen, verbarg den Kopf in ihrem Schoß und weinte bitterlich. Die Blinde sprach ihr tröstend zu wie einem kranken Kinde und wies sie in sanftem Mahnen auf den gekreuzigten Heiland hin. Er hat auch ihre Sündenschuld getragen und schon längst die Arme nach ihr ausgestreckt und warte nur darauf, dass sie sich vertrauensvoll hineinwerfe, statt ängstlich verzagend zu klagen, dass sie ihn nicht finden könne.

Da trocknete Meta plötzlich ihre Tränen und hob mit einem Ruck das Haupt empor. „Mein Heiland wartet auf mich?“, fragte sie ganz erstaunt.

„Und ich war schon so lange traurig, dass er mir meine Sünden nicht vergeben will. Ich dachte schon, ich könnte keine Gnade finden.“

„O, wollten Sie erst etwas Besonderes erleben oder gar sehen, ehe Sie glauben können, dass Christus auch für Sie gestorben ist?“, lächelte die Justizrätin fein. „Nicht an unseren beweglichen Gefühlen oder heißem Ringen liegt es, dass wir Gottes Kinder werden, sondern im nackten Glauben an sein geschriebenes Wort. Das ewig vollgültige Opfer für alle Menschen ist schon vor nahezu zweitausend Jahren vollbracht. Und es tritt für den Einzelnen in Kraft, sobald wir glauben, dass es auch für uns persönlich geschehen ist. Nehmen Sie es einfach für sich in Anspruch. Denn im denselben Augenblick, wo Sie gläubig zugreifen, ist Ihnen alles geschenkt, was Christus uns durch seinen Kreuzestod erworben hat. Denn in ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, nämlich die Vergebung der Sünden.“

„Wir haben sie ... “, entgegnete Meta gedankenvoll. „So ringen wir eigentlich mehr mit uns selbst als mit Gott, mit unserem Unglauben und Zweifel, der uns das schon bereitete Geschenk nicht ergreifen lässt.“

„Ja Kind, so ist es! Aber auch mit dem Widersacher, der es nicht leiden will, dass wir die Herrlichkeit des Sohnes erkennen. Deshalb dieser heiße Kampf, wenn er uns aus der Finsternis zu seinem wunderbaren Lichte beruft.“

„Und in diesem Lichte wandeln, heißt aus Gott geboren sein?“, fragte das junge Mädchen mit erwachendem Verständnis.

„Freilich, Liebling! Gott selbst ist die Quelle des Lebens, aus dem allein uns die Kraft zu diesem neuen Leben zuströmt. Die Geburtsstätte dazu aber ist der Glaube an Jesus. Durch sein Blut sind wir mit Gott versöhnt. Glauben wir, dass es für uns floss, dann wendet sich Gottes Vaterantlitz uns in Huld und Gnade zu. Er kennt unsere Sünden nicht mehr, weil Jesus sie tilgte. Die Gerechtigkeit aber, die er von uns fordert, hat sein lieber Sohn erfüllt, und uns rechnet er sie zu. Wir sind angenehm gemacht in dem Geliebten und haben dadurch Kindesrecht gewonnen im Vaterhause. Statt Zorn und Gericht genießen wir seligen Frieden. Mit Jesu Liebe erfüllt Gott dann auch unsere Herzen und schenkt uns die Freude im Heiligen Geist, der uns das Zeugnis unserer Gotteskindschaft gibt. So sind wir plötzlich mitten hineinversetzt in dieses göttliche Leben, ohne dass wir uns den Vorgang recht erklären können.“

„Es geht uns just wie dem kleinen Kindlein, dass das Licht der Welt erblickt. Es weiß nicht, wie es hineingekommen ist, aber es fängt an zu atmen, sich zu bewegen und das Leben zu gebrauchen, das ihm geschenkt ist. Und später lernt es dann um sich schauen und ein Stück nach dem anderen erkennen und es sich im steten Wachstum nutzbar zu machen. So schauen auch unsere Geistesaugen immer tiefer in den göttlichen Reichtum hinein. Wir dürfen aus seiner Fülle nehmen Gnade um Gnade. Und das neue göttliche Leben wirkt sich immer mehr in uns aus, bis es einst zur Vollendung gelangt droben in der seligen Ewigkeit. Dort dürfen wir Ihn dann schauen von Angesicht zu Angesicht, der uns die Macht gegeben hat, ihm in diesem neuen Leben nachzuwandeln. Ist das nicht Freude, so der göttlichen Natur teilhaftig zu werden und sich in Jesu Bild verklären zu lassen?“ Meta war bei den letzten Worten entschlossen aufgesprungen. Wie eine Sturmflut waren alle diese geschilderten Gnadenreichtümer über ihr Herz gebraust. Das alles sollte ihr gehören, und ihr zweifelnder Unglaube wollte sie hindern, es in Besitz zu nehmen? Das durfte nicht länger geschehen.

Sie schaute eine Weile in stummem Gebetsringen in den sinkenden Abend hinaus. In ihrer Seele aber wurde es plötzlich licht und hell. Sie konnte glauben, dass Jesus alles für sie schon vollbrachte, was sie sich in eigener Mühe hatte so heiß erringen wollen. Und da ging es ihr genau so, wie die liebe Blinde es ihr vorerzählte. Sie wusste nicht, wie es geschehen war, aber es stand mit einem Mal klar vor ihrem Geiste, dass ihre Sündenschuld vergeben sei. Fast in demselben Augenblick senkte sich ein wunderbarer Friede in ihr Herz und zu gleicher Zeit durchströmte sie eine unaussprechliche Freude bei dem Gedanken, dass sie nun ein begnadigtes Kind Gottes sei. Sie wusste auch plötzlich, dass sie zur Seligkeit berufen und ein Miterbe Christi sei. Und niemand hätte ihr abstreiten können, dass sie wiedergeboren sei zu einer lebendigen Hoffnung des ewigen Lebens. Es war ihr einfach seliges Wissen und tiefe Herzenserfahrung geworden. Ihr Jubel darüber war so groß, dass sie es nicht mehr auf ihrem Platz aushalten konnte. Sie musste hinaus, allein sein mit ihrem Gott, um ihm in tiefer Anbetung den ersten Dank zu zollen. Ohne daran zu denken, vorher um Erlaubnis zu bitten, stürmte sie einfach zur Tür hinaus, hinauf in ihr stilles Heiligtum. Dort warf sie sich überwältigt auf die Knie nieder und pries und lobte Gott mit lauter Stimme für die wunderbare Rettung ihrer solange in Fesseln der Knechtschaft gebundenen Seele. Nun endlich hatte sie, nach langer Irrfahrt durch den starren äußeren Formalismus, heimgefunden zum Urquell, daraus lebendig Wasser ihr entgegensprudelte, von dem sie unerschöpflich trinken durfte bis in alle Ewigkeit.

Im seligen Entzücken lag sie so vor ihrem Gott im trauten Zwiegespräch. Doch nachdem sie ihm aus voller Seele das erste Dankopfer brachte, gedachte sie an ihre mütterliche Freundin drunten, die ihr zu diesem neuen Seelenglück ein freundlicher Leitstern gewesen war. Und mit beflügelten Schritten eilte sie hinab, um ihr die frohe Botschaft zu verkündigen. Im Bewusstsein vertrauter Geistesverwandtschaft flog sie, alle Etikette vergessend, der alten Dame jubelnd um den Hals und flüsterte ihr in tiefer Glückseligkeit zu: „Nun weiß ich fest, dass Jesus auch für mich gestorben ist. Ich bin sein selig Eigentum und will ihm ganz gehören mit Willen, Herz und Leben für Zeit und Ewigkeit.“

Die Blinde drückte sie in tiefer Bewegung an sich. „Mein Kind, meine geistliche Tochter“, sagte sie innig beglückt, „wie freue ich mich von ganzen Herzen mit über diesen großen Glaubenssieg! Dem Herrn allein, der ihn bewirkte, sei Preis und Dank dafür! Aber ich danke ihm auch, dass ich dich zu ihm führen durfte. Es ist mir gerade, als hätte er dich mir heute neu geschenkt.“ Dann nahm sie Metas Kopf zwischen ihre beide Hände und drückte einen Weihekuss auf ihre weiße Stirn.

„Du sollst mich von heute an „Mutter“ nennen, denn jetzt sind wir eins in Jesu Liebe. Du sollst mein liebes Pflegetöchterchen sein, das mein Alter sonnig erhellt. Und ich will fortan wie eine zweite Mutter für dich sorgen. Beide aber wollen wir mit ganzer Seele Jesu dienen.“

Meta war ganz überwältigt von diesem neuen Glück, das ihr der Herr nun auch in irdischer Weise so freundlich beschert hatte. Wie war es doch so wahr, was in der Bibel stand: „Ihr sollt hundertfältig wiederempfangen Vater, Mutter, Brüder, Schwestern, Häuser und Äcker“! Sie hatte nicht nur die himmlische, sie hatte auch in Wahrheit eine irdische Heimat gefunden, wo sie sich wohl und glücklich fühlte und verstanden wurde. Sie schlang im Übermaß ihres Glückes von Neuem die Arme um den Hals der alten Dame und jubelte: „Meine Herzensmutter, wie will ich dich auf Händen tragen. Und gebe Gott, dass ich dir alle Liebe vergelten kann, die du schon an dem armen, halb verwaisten Kinde bewiesen hast!“

Eine Weile standen sie noch eng aneinandergeschmiegt. Und sie sahen wirklich wie Mutter und Kind aus in dem Widerschein der heiligen Jesusliebe, die auf beider Antlitz leuchtete. Dann jauchzte Meta plötzlich in übersprudelnder Freude auf: „Ich muss es auch den anderen sagen, sie haben so treulich mit für mich gebetet.“ Und glücklich wie ein Kind lief sie zuerst in die Küche hinaus, wo Minna gerade das Abendbrot bereitete. Das junge Mädchen stellte sich vor sie hin und rief ihr strahlend zu: „Minna, Sie gute Seele, raten Sie einmal, welch ein großes Glück mir widerfahren ist. Es hängt mit Ihrem schönen Lieblingslied von dem Born, der lauter Wunder tut, zusammen.“

„O Fräulein Meta, Sie sind ein Königskind geworden!“, entgegnete Minna schlagfertig. Sie sprach gern in gewählten Ausdrücken, wobei sie auch meist den Nagel auf den Kopf traf. Dann äußerte sie ihr Entzücken in der ihr eigenen, praktischen, hauswirtschaftlichen Weise in dem begeisterten Ausruf: „Nun koche ich Ihnen aber auch vor lauter Freude vier Wochen lang, alle Tage der Reihe nach, Ihre sämtlichen Lieblingsgerichte!“ Meta lachte herzlich über den drastischen Einfall und sagte fröhlich: „Und da träfen Sie vielleicht immer noch nicht das allerbeste. Meine Lieblingsspeise ist nämlich jetzt das Wort Gottes.“ Dann drehte sie sich rasch um und lief, leise vor sich hinsingend, in den Garten hinaus. Dort suchte sie die alten, treuen Gärtnerleute auf, die sie wie immer in größter Einigkeit, nahe beieinander, arbeitend fand. „Wisst Ihr schon das Allerneueste?“, fragte sie schelmisch. „Unser Haus hat jetzt eine neue Jesusjüngerin mehr bekommen. Könnt Ihr Euch denken, wer dass ist?“

„Nun, was Sie sagen, ist das aber ein Glück, Fräuleinchen! Dann mög’ Sie man nur der liebe Gott behüten!“, rief die alte Hanna erstaunt die Hände zusammenschlagend. Und dann weinte sie gleich dicke Freudentränen in ihre blaue Schürze hinein. Ihr Mann aber wischte sich mit der schwieligen Faust über die feucht gewordenen Augen und murmelte bewegt vor sich hin: „Ja, der Herr erhört Gebete! Wir haben unser junges Fräulein ja alle Tage an sein Herz gelegt.“ Hanna aber rief ihm plötzlich treuherzig dazwischen: „Du, Friedrich, ganz dort hinten im Garten sind gerade die ersten Rosen aufgebrochen. Lauf doch schnell mal hin und hol sie unserem Fräulein her. Das ist so ein schönes Bild davon, wenn so ’ne junge Seele anfängt, für den Herrn Jesus zu blühen. Und die Frau Justizrätin wird’s wohl nicht übel nehmen, wenn sie diesmal nicht die allerersten kriegt. Sie denkt ja selber immer zuerst an das junge Fräulein.“

Der alte Friedrich war schon im Trabe davongerannt wie ein junger Knabe und kehrte bald darauf mit zwei prachtvollen Rosen zurück, einer eben aufgebrochenen purpurroten und einer halb erblühten schneeweißen. Das junge Mädchen nahm sie dankbar aus seinen Händen. „Welch schönes Sinnbild sind sie doch für Jesu teures Opferblut und das Herz, das er damit schneeweiß und reinwaschen will!“, sagte sie, bewundernd in ihren Anblick versunken, mehr für sich selbst. Aber die schlichten Gärtnerleute nickten so verständnisvoll dazu und gaben ihr eine Antwort, die Meta in Erstaunen setzte. Sie konnte sich im Stillen gar nicht genug wundern, welch göttliche Weisheit aus dem Munde dieser einfältigen Leute kam. Sie fing an, etwas von dem hohen Seelenadel der Wiedergeburt zu begreifen, der auch unter schlichten Arbeitskleidern wohnen kann. Fast ehrerbietig verabschiedete sie sich von den guten Leuten, die ihre gereiften Geschwister im Herrn waren.

Mit einem Blick auf die duftigen Blumen in ihrer Hand flüsterte sie im Weitergehen leise vor sich hin: „Ich will sie Mutter bringen als erste Liebesgabe.“ Dann scholl es jauchzend von ihrem Munde in die blühende Frühlingspracht hinein:

„Welch Glück ist’s, erlöst zu sein, Herr, durch dein Blut!“ So kehrte sie fröhlich singend ins Haus zurück. Auch in ihrem jungen Herzen war ein neuer Glaubensfrühling angebrochen.

Nicht nur draußen in der wonnigen Natur, auch in des Hauses stillen Räumen herrschte jetzt heller Sonnenschein und frisches Geistesblühen. Meta war wie umgewandelt in ihrem ganzen Wesen. Ihr gedrücktes Gemüt war völlig genesen, seit die Last der Sünde von ihrer Seele fortgenommen war. Sie fühlte sich so leicht und frei wie ein beschwingtes Vögelein, das sich zwitschernd im blauen Äthermeer wiegt. Auch sie hätte gleich einem solchen den ganzen Tag jubeln und singen mögen. Die ganze Welt um sie her schien anders geworden zu sein. Sie bot ihr lauter Gelegenheit zum Lieben und Sichfreuen. Und alles, was sie tat, gereichte ihr zur tiefen Glückseligkeit, weil sie es jetzt für Jesus tun durfte.

Wie war das doch alles so ganz anders als früher, wo sie sich müde geschleppt hatte unter der Last sich selber aufgebürdeter Pflichten und krank gerungen mit ihren vermeintlichen guten Werken! Jetzt wusste sie es besser. Sie konnte Gott nichts bringen in eigener Kraft, und sie wollte es auch gar nicht mehr. Sie wollte weiter nichts sein als ein leeres Gefäß, erfüllt mit Gottes Kraft und Jesu Liebesfülle, so überfließend voll und reich, dass es überströmte auf ihre ganze Umgebung. Jetzt war sie eins mit Gott und tat nur, was sein Geist ihr sagte, und dadurch wurde sie ein reicher Segen für die anderen. Es war, als ob durch sie sich ein neuer Lebensstrom durchs Haus ergoss, der alle Glaubensblüten darin frisch belebend zu noch schönerem Blühen brachte als bisher. Die lieben Hausgenossen hatten alle ihre helle Freude an dem neubekehrten jungen Mädchen, das wirklich wie eine liebliche Saronsrose zu den Füßen ihres Herrn und Heilands blühte. Und ihr süßer Duft zeigte sich in allerlei zarten Liebesbeweisen, sinnigen Anordnungen und kleinen Gefälligkeiten, mit denen sie das ganze Leben im Hause zu schmücken und zu einem tief freudenreichen zu gestalten verstand. Die reichste Liebe aber und die schönsten Dankesblüten brachte sie ihrer geliebten geistlichen Mutter dar, die sie unermüdlich zu erfreuen sann. Sie suchte ihr alle Wünsche an den blinden Augen abzulesen, die so ausdrucksvoll zu blicken verstanden, obgleich ihnen die Sehkraft fehlte. Und wie fühlte und verstand die Blinde diese zarte, reiche Liebe, die das junge Mädchen ihr vertrauensvoll entgegenbrachte! Die Geistesverwandtschaft in Jesu hatte sie so innig zusammengekettet, dass sie fast übereinstimmend dachten und empfanden.

„Ich sehe jetzt durch deine Augen“, sagte die Justizrätin oft glücklich lächelnd, wenn Meta ihr alles in so lebhaften Farben schilderte, was sie um sich her in ihr eindrucksfähiges Gemüt aufnahm. Es stand dann alles so lebhaft vor dem geistigen Auge der blinden Dame, dass sie die sichtbare Gestalt kaum vermisste. Und vieles, woran sie in der Dunkelheit ihrer Tage das Interesse verlor, verstand Meta durch ihre frische, jugendliche Freude daran wieder aufzuwecken, sodass die alte Dame im Fühlen und Denken wieder jung wurde mit ihrem geistlichen Herzenskinde.

„Mein Sonnenstrahl!“, pflegte sie oft liebreich zu sagen, wenn Meta ihr wieder das Herz so warm und weit machte durch erneute zarte Aufmerksamkeiten und innig beglückende Liebe. Wahrlich, sie brauchte es nicht zu bereuen, dass sie dieses junge Menschenkind so rückhaltlos an ihr Herz nahm. Denn es vergalt ihr alle Mühe reichlich wieder durch tiefe Dankbarkeit und kindliches Vertrauen. Nicht umsonst hatte sie all die schweren Kämpfe mitgetragen, die der Herr ihr wie eine priesterliche Last zur treuen Fürbitte auf die Seele legte. Er hatte sie überschwänglich reich dafür gesegnet und ihr in der anvertrauten jungen Seele eine geistliche Tochter geschenkt, mit der sie in Wahrheit durch seinen Geist verbunden war zu inniger Gemeinschaft in ihrem nun gemeinsamen König und Herrn. Ja, nicht nur neues Leben aus Gott durchströmt die eigene Seele nach dem Akt der Wiedergeburt, sondern es knüpfen sich auch feste, unaufhörliche Verwandtschaftsbande in der geistlichen Gottesfamilie an. Das hatten Mutter und Kind jetzt in der herrlichsten Weise erfahren.

Eines nachmittags nun, nachdem Meta die Justizrätin nach ihrer gewohnten Mittagsruhe wieder frisch zurechtgemacht und sorgsam zu ihrem Fensterplatz geleitet hatte, wo sie ihr bis zur Kaffeestunde vorzulesen pflegte, streifte ihr Blick vorher unwillkürlich noch einmal zum Fenster hinaus, weil sie die Pforte an der Gartenmauer gehen hörte. Da – was war denn das für eine seltene Erscheinung im Rolandschen Landhause? Ihr Auge blieb wie gebannt auf der eintretenden Gestalt haften, die urplötzlich eine ganze Flut alter Erinnerungen in ihr weckte. Sie strich sich tief aufatmend über die Stirn, ob sie denn auch wache oder nur träume, während das Buch ihr ungeöffnet in den Schoß sank. Dann sagte sie plötzlich lebhaft, ihrer staunenden Überraschung Raum gebend: „Soeben kam eine Diakonisse zum Gartentor herein und schreitet jetzt direkt auf unser Haus zu. Was mag die wohl hier wollen, es ist doch niemand krank bei uns?“

„O, das wird meine Nichte sein“, entgegnete die blinde Dame erfreut. „Sie hat immer um diese Zeit Ferien, die sie hier im Ort bei den Ihren verbringt. Da pflegt sie mich öfter zu besuchen. Sie ist ein so liebes Geschöpf und dabei eine wahre Jüngerin des Herrn.“

Meta hatte der schwarzen Gestalt mit der blendend weißen Haube mit gespanntem Interesse entgegengeschaut. Jetzt malte sich plötzlich eine tiefe Erregung in ihren Zügen. Sie sprang wie elektrisiert in die Höhe und fragte hastig: „O bitte, Mutti, darf ich ihr entgegengehen? Ich – ich glaube, ich kenne diese Schwester von früher her.“

„Aber natürlich, Kindchen! Dann lauf nur rasch und bringe ihr einen warmen Willkommensgruß.“ Meta ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie flog mehr, als sie ging, den schattigen Gartenpfad entlang. Und ohne zu bedenken, dass sie einander noch sowenig kannten, eilte sie mit ausgebreiteten Armen auf die entgegenkommende Diakonisse zu. Im nächsten Augenblick hing sie ihr schon lachend und weinend zugleich am Hals. „Schwester Gabriele, o meine liebe Schwester Gabriele, wie ich mich freue, Sie doch noch einmal in diesem Leben wiederzusehen! Wer hätte gedacht, dass uns wirklich eine erneute Begegnung blühen würde, noch dazu an diesem lieben Ort hier!“

„Das ist allerdings ein wunderbares Zusammentreffen“, sagte Gabriele bewegt. „Das hat der Herr so gefügt!“ Dann setzte sie in ihrer alten Fröhlichkeit hinzu: „Kindchen, sind Sie es denn auch wirklich? Und viel zufriedener, wie ich sehe, trotzdem der angehende Heiligenschein von dem widerstrebenden Köpfchen der jungen Probeschwester Meta herabgerutscht ist.“

Das junge Mädchen lächelte leise. „Der ist im Zerbrechen der eigenen Kraft mitzerschellt.“ Dann sah sie mit leuchtenden Augen zu Gabriele empor und sagte freudig: „Aber ich bin trotzdem Schwester, als Pflegerin Ihrer lieben Tante nämlich, und zwar in seiner Kraft. Denn ich stehe jetzt in des Meisters Hand als sein seliges Eigentum.“

Da beugte sich Gabriele überwältigt auf sie herab und küsste sie herzlich. „Lass uns fortan „du“ zueinander sagen, wir sind jetzt mehr denn je Schwestern geworden. Glaubensschwestern in ihm, unserem großen Herrn und König, dem wir beide, wenn auch in anderer Weise, dienen.“

Arm in Arm schritten sie dann froh gesinnt dem Hause zu. War das ein Jubel, als sie dann bei der von beiden so warm verehrten alten Dame eintraten, die an ihrem Sonnenglück des unerwarteten Wiederfindens so innigen Anteil zu nehmen und sich von Herzensgrunde mit ihnen zu freuen verstand!

Das gab ein Erzählen, als sie dann gemütlich an den von Meta zierlich hergerichteten Kaffeetisch saßen und die Erinnerungen alter und neuer Tage an ihrem Geiste vorüberzogen. Jetzt war es hauptsächlich Meta, die am eifrigen Beichten war. Und Gabriele hörte diesmal zu, im Herzen tief bewegt, wie wunderbar der Herr diese, ihn suchende Seele, durch innere wie äußere Irrwege zum endlichen herrlichen Ziele führte. Auch ihr eigenes Gebet war dadurch erhört. Denn sie hatte trotz der nur flüchtigen Begegnung die junge Probeschwester nie vergessen können, die ihr damals im Eisenbahnwagen einen so tiefunglücklichen Eindruck machte. Sie hatte sie seitdem oft dem treuen Heiland in warmer Fürbitte ans Herz gelegt. Und nun führte er sie ihr in den denkbar glücklichsten Verhältnissen als gerettete Seele entgegen. Ja, wahrlich, die ewige Liebe, die Sünderseelen sucht und neue Menschen daraus schafft, war anbetungswürdig und groß!

Gabriele gab diesem Lobpreis Gottes, wie der innigen Freude an seinen Wunderführungen beredten Ausdruck. Und die blinde Justizrätin fügte sinnen hinzu: „Ja, dem Aufrichtigen lässt es der Herr gelingen. Unsere Meta hat ihn von ganzem Herzen gesucht, darum hat er sich auch von ihr finden lassen.“

„Gott sei Dank, dass es so ist!“, entgegnete das junge Mädchen mit glückseligem Leuchten im Angesicht. „Doch hätte er sich nicht so gnädig zu mir herniedergeneigt und mich aus allen Irrtümern menschlicher Satzungen herausgeführt, dann hätte ich ihn nie gefunden.“

Eine Weile herrschte tiefes Schweigen im Gemach. Alle drei standen unter dem niederbeugenden Eindruck, dass der böse Feind Gottes reine Schöpfung so gründlich verdorben hatte, dass die armen, von ihm verführten Menschen nicht nur in tiefe Sünden gefallen, sondern auch in weite Gottesentfremdung geraten waren. Als Fürst dieser Welt hatte er ihre Herzen von Jehova abgewandt und sich selbst in ihren Besitz gesetzt, um sie, ihnen selber unbewusst, zu regieren und sie sich durch lockende Versuchungen und seine Ränke dienstbar zu machen. Er hatte sie mit geistiger Blindheit geschlagen, anstatt, wie er ihnen versprochen, sie sehend und Gott gleich werdend zu machen. Seine List aber hatte ihnen in hunderterlei starren Formen dogmatischer Lehrsätze und falscher Religionsbegriffe eine fromme Maske vor das Gesicht gehängt, so dass sie noch immer meinten, mit Gott zu leben, während sie doch seinem wahren Lebenselemente und seinen Wesenseigenschaften unendlich fern waren. Und deshalb war es nötig, dass ein Mensch, der dennoch ins Reich Gottes eingehen wollte, von neuem geboren werden musste.

Diesen Gedankengang aufnehmend, hob die blinde Justizrätin von neuem an: „Die meisten Menschen wissen gar nicht, wie tief sie drinnen stecken. Denn nur wer sich von Gottes Geist berühren lässt, der allein unsere Finsternis erleuchten kann, vermag die ewige Liebe zu erkennen, die sich in Jesu geoffenbart hat, der herniedergestiegen ist, um die arme verlorene Menschheit wieder ans Vaterherz zurückzuführen.“

„Und doch denken so viele, die Wissenschaft mit ihren nach Menschenweisheit aufgestellten Theorien ist es, die uns zum Himmelreich geschickt und tüchtig macht. Auch bei den Meinen ist es noch so“, warf Meta seufzend dazwischen.

„Und die guten Werke, die sie in eigener Kraft vollbringen wollen, als ob sich Gottes Vaterhuld verdienen ließe“, ergänzte Gabriele.

„Auch das habe ich bitter erfahren müssen“, gab Meta zu. „Uns es will mir jetzt noch fast verwunderlich erscheinen, dass ich so schwer und lange habe ringen müssen, ehe ich Gottes Angesicht finden konnte. Ganz kann ich es überhaupt noch nicht verstehen, warum der Herr mich gar solange in der Irre gehen ließ, da es ihm doch ein Kleines gewesen wäre, meine wirklich aufrichtige tiefe Sehnsucht nach ihm schon früher zu stillen.“

„Der Herr muss uns eben erst ganz zunichte machen, bis wir gar nichts mehr in uns selber suchen“, erklärte ihr die blinde Dame freundlich.

„Wir glauben ja sonst gar nicht, wie hochmütig das menschliche Herz veranlagt ist. Es tut sich bei aller Aufrichtigkeit des Verlangens doch zu gern etwas dabei zugute – und wenn es auch das Beten, Ringen und Weinen ist, mit dem wir flehend vor seinem Gnadenthron liegen. Er aber will uns alles schenken und muss deshalb unsere Herzen erst so leer von allem Eigenen machen und sie zubereiten, dass wir lediglich als freie Gnade zu nehmen verstehen, was Gott uns in seinem Sohn anbietet.

Kein Funke des göttlichen Lebens liegt in uns selber. Die Flamme fällt von oben herab und durchglüht unser Sein. Der Herr selber muss das Feuer anzünden durch den Akt der Wiedergeburt. Denn nur von Gott geboren, können wir Gott verstehen in seinem Denken, Willen, Handeln und Wesen. Und in dieser Übereinstimmung mit ihm nur ist es möglich, uns in Jesu Bild verklären zu lassen und Gott wieder so ähnlich zu werden, dass wir einst vor sein heiliges Angesicht treten dürfen. Denn nur die, die reinen Herzens sind, werden Gott schauen.“

„O, welch ein herrliches Ziel!“, sagte Meta tief aufatmend. „Da will ich gern im Kinderstübchen sitzen und alles geschenkt nehmen, Gerechtigkeit und Heiligkeit, Liebe und Güte, Friede und Freude im Heiligen Geist.“

„Ja, klein wie die neugeborenen Kindlein müssen wir werden, die sich hilfsbedürftig an der Mutter Arm schmiegen“, setzte die fröhliche Gabriele hinzu. „In so beständiger Abhängigkeit von ihm finden wir auch die Kraft, die Werke zu tun, die Gott wirklich wohlgefallen, denn ohne Werke ist ja unser Glaube tot. Doch die eigene Werkgerechtigkeit belebt ihn nicht. Sobald es aber heißt:

„Durch ihn, für ihn!“, dann geht das fröhliche Schaffen an, das Ewigkeitsfrüchte bringt. Wie herrlich ist doch solches Tun für den Meister! Ja, wenn doch alle Menschen wüssten, wie selig es ist, aus Gott geboren sein und einen Lebenswandel in Wort und Tat zu führen! Ich möchte es allen sagen, die noch in der Finsternis leben.“

„Ja, wie köstlich ist auch die Gesinnung tiefen Erbarmens mit der verlorenen Welt, die wir dann geschenkt bekommen!“, schloss die Justizrätin.

„Kommt, Kinder, lasst uns einen Bund schließen zu treuer Fürbitte, dass noch viele in Knechtschaft der Sünde und Fesseln von Menschensatzungen gebundene Seelen, besonders die unserer Lieben, frei werden möchten. Und dass sie die Notwendigkeit der Wiedergeburt aus Gottes Geist durch sein teures Wort erkennen und selig am eigenen Herzen erfahren.“

Die alte blinde Dame streckte in geisterfüllter Jesusliebe beide Hände über den Tisch, und die zwei jungen Mädchen legten mit aufleuchtendem Blick ihre Rechte hinein und wiederholten, vom gleichen Liebesdrange beseelt, leise und verständnisinnig: „Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, sonst kann er das Reich Gottes nicht sehen.“