Nachklang

Zum zehnten Mal zieht nun schon dies Büchlein in die weite Welt hinaus. Gottes Güte hat ihm wunderbar die Bahn gebrochen in die Häuser und Herzen der Menschenkinder hinein. Manche still verborgene und auch offenbar gewordene Segensspur hat es schon darin ziehen dürfen. Eine von besonderer Art möchte das Buch gern auf seinem zehnten Gang begleiten.

Als es das erste Mal hinauszog, bewegte die Verfasserin der betende Gedanke: „O Herr, schenke mir darauf als schönsten Gnadenlohn die Rettung einer jungen Mädchenseele!“

Etwa ein halbes Jahr später weilte ich in einem christlichen Erholungsheim. Dort begrüßte mich eine liebe, gläubige Dame mit den Worten: „O, ich habe etwas für Sie zum Freuen!“ Das klang so verheißungsfroh!

Darauf stellte sie mir ein junges Mädchen vor, das ihre treue Stütze war. „Fräulein Gretchen hier wird es Ihnen am besten berichten können, denn sie hat es selbst miterlebt.“

Dann gingen wir miteinander in den schattigen Laubgängen des Gartengrundstücks auf und ab. Es war ein herrlicher Juniabend. Der glutrote Sonnenball war eben still am Horizont hinabgesunken. Er hatte den Wolkensaum purpurn gefärbt und wir schauten in stummer Bewunderung zu, wie er im prachtvollen Farbenspiel leise verblasste. Die Dämmerung hüllte die wunderbare Gebirgswelt um uns her in geheimnisvolles Halbdunkel ein. Da hob meine freundliche Begleiterin an zu erzählen:

Ich hatte eine sehr liebe Freundin. Sie war meine beste. Wir vertrauten einander alles an und waren schier unzertrennlich – bis unsere Wege innerlich auseinandergingen. Der meine hatte die Richtung nach Golgatha eingeschlagen, wo er am Kreuzesstamm sein schönstes Ziel erreichte. Mein Heiland, der dort auch für mich sein teures Blut vergoss, hatte mich überwunden, gesucht und gefunden. Ich war ein glückliches Gotteskind geworden.

An diesem hohen Glück wollte ich nun auch gern meine liebe Freundin teilnehmen lassen. Doch sie verstand mich nicht mehr. Sie liebte die Welt mit ihrem blendenden Schimmer und wollte nicht von ihr lassen. Ach, und doch musste sie ihre vergänglichen Reize so bald vor sich verblassen sehen, denn sie war schwer lungenkrank geworden und lag wohl auf dem letzten Lager.

Ihre einst so blühenden Wangen waren blass und eingefallen, ihre sonst munter schaffende Hände lagen schlaff und durchsichtig weiß auf der Bettdecke. Dieser Anblick schnitt mir tief ins Herz. Noch schwerer aber bedrückte mich der Gedanke, dass auch ihre Seele todkrank war. O, was sollte aus ihr werden, wenn sie ungerettet in die Ewigkeit hinüberging? Mein heißes Flehen war deshalb: „O Herr, lass mich den Weg zu ihrem Herzen finden! Gib, dass ich ihr von deiner wunderbaren Liebe, die sie retten will, erzählen darf!“

Doch ihr Herz war verschlossen für die Stimme der Gnade, die sie lockte und rief. Sobald ich nur ein Wort von Jesus sprach, wandte sie sich unwillig ab. Nicht einmal den Namen Gottes durfte ich vor ihr nennen.

„Gott ist grausam! Er nimmt mir mein junges Leben. Ich will nichts von ihm wissen.“ Das war ihre ständige Rede, von der sie sich nicht abbringen ließ. Manchmal schrie sie verzweiflungsvoll auf: „Ich will nicht sterben! Bin ich doch erst achtzehn Jahre alt. Da habe ich noch ein Recht zu leben. Und ich will mein Leben auch genießen. O meine schöne Jugendzeit!“

Ja, sie war jung und schön; aber auf ihren Wangen blühten die Friedhofsrosen. Sie war dem Tode verfallen. Ihre schöne Jugendzeit hatte sie verträumt und versäumt. Nun stand sie vor den Pforten der Ewigkeit, und es graute ihr hindurchzugehen. Kein Wunder! Denn sie hatte ja keine Hoffnung des ewigen Lebens. Und das Traurigste war – sie wollte nicht.

Immer wieder versuchte ich es, ihr in freundlicher Liebe zuzureden. Wollte ich ihr aus der Bibel vorlesen, so wehrte sie heftig ab. „Ich mag nichts davon hören. Es stehen doch nur lauter Lügen drin. Wenn dein Jesus etwas könnte, so würde er mich gesund machen.“ Manchmal fing ich leise an, ein Gesangbuchlied zu singen. „Hör auf! Das kann ich nicht ertragen, es greift mich furchtbar an.“

Beim nächsten Besuch hatte ich mein kleines Spruchkästchen mitgebracht. „Komm, Ilse, zieh dir ein gutes Losungswort daraus. Das bringt Trost ins Herz.“ „Lass mich in Ruh’, Grete! Du weißt doch, das ist nichts für mich.“ Damit drehte sie ablehnend den Kopf nach der Wand. Das war bei ihr das Zeichen, dass sie nicht mehr zu sprechen war.

Ach, was sollte ich nur noch tun, um sie für Jesus zu gewinnen? Denn ohne ihn konnte sie ja nicht selig werden! Und es ging mit Riesenschritten der Ewigkeit entgegen. Sollte ich sie wirklich ungerettet in Nacht und Grauen hinübersinken sehen? „O lieber Herr, erbarme dich über sie! Lass es mir doch gelingen, den Schlüssel zu ihrem Herzen zu finden, um es für dich aufzuschließen!“

Das blieb meine flehende Bitte bei Tag und bei Nacht. Da kam mir plötzlich noch zu guter Letzt ein Einfall. Es war, als sei er mir von oben gegeben.

Als ich das nächste Mal zu ihr ging, erzählte ich ihr harmlos: „Du, ich habe von meiner Dame zu Weihnachten ein schönes Buch geschenkt bekommen. Darf ich es dir vielleicht vorlesen?“

„So? Was ist es denn?“, entgegnete sie müde.

„O, es ist eine interessante Geschichte, die dir sehr gefallen wird.“

Sie horchte ein wenig auf. „Eine Geschichte? Dann meinetwegen! Vielleicht vertreibt sie mir die entsetzliche Langeweile.“

Glücklich über ihre endliche Zustimmung, begann ich vorzulesen. Sie lag ganz still und sagte kein Wort. Nach einer Weile drehte sie wieder den Kopf zur Wand. Da wusste ich, dass sie für heute genug hatte, und hörte klugerweise auf.

Beim nächsten Kommen las ich ihr wieder ein Stückchen daraus vor, und so fast alle Tage. Denn es verging kaum einer, an dem ich sie nicht rasch auf ein Weilchen besuchte.

Auf diese Weise waren wir schon bis über die reichliche Hälfte des Buches gekommen. Ilse hatte noch keinen Ton darüber verloren, sondern nur durch die bezeichnende Kopfwendung stets das Zeichen zum Aufhören gegeben.

Diesmal aber richtete sie sich plötzlich mit einem energischen Ruck in die Höhe. Auf ihren schmalen Wangen brannten zwei fieberrote Flecke. Die dunklen Augen aber sprühten förmliche Zornesblitze. „So, nun hab’ ich’s aber satt! Kein Wort mehr weiter! Das ist ja ein ganz abscheuliches Buch, grässlich, schrecklich, entsetzlich ist es! Denn jedes Mal, wenn du mir daraus vorgelesen hast, konnte ich vor Aufregung die ganze Nacht nicht schlafen.“

So herb auch dieses Urteil klang, in meinem Herzen löste es einen heimlichen Jubelklang aus. War ihre Erregung doch ein sicheres Zeichen, dass der Inhalt des Buches sie angefasst hatte. Leise und ohne Empfindlichkeit stand ich auf, strich ihr beruhigend über die fieberglühenden Wangen, bettete sie sanft in die Kissen zurück und verabschiedete mich still.

„Nimm dein schreckliches Buch wieder mit und bringe mir’s nicht mehr unter die Augen!“, schmollte sie noch.

Doch dazu konnte ich mich nicht entschließen. Beim Hinausgehen legte ich es sacht und unbemerkt auf ein Seitentischchen hin. Dann ging ich ein wenig traurig von dannen. Fahren lassen konnte ich die arme Ilse nicht. Es trieb mich immer wieder zu ihr hin. Bitterweh tat es mir jedoch dabei, dass nun der glücklich angeknüpfte Faden so plötzlich wieder abgerissen war. Sollte denn jeder Versuch vergeblich gewesen sein? Dann musste sie ja schließlich doch dem Feinde zur Beute fallen, um ins ewige Verderben hinabzusinken.

Doch nein, das konnte, das durfte nicht sein!

„Jesus, du großer Meister, willst du nicht Sieger bleiben? Lass dir diese teure Seele nicht entwinden. O rette, rette sie noch in der letzten Stunde!“

Ach, und ihre letzte Stunde schien immer näher zu rücken. Mir krampfte sich bei jedem Besuch das Herz fester zusammen, wenn ich den täglichen Verfall ihrer zerbrechlichen Leibeshülle sah und mit keinem göttlichen Worte mehr helfen konnte, denn sie wies jeden, auch den leisesten himmlischen Trost ab. Das war unsagbar traurig.

Einmal saß ich wieder tief bekümmert an ihrem Bett. Ich sah, dass sie nur noch wenige Tage zu leben hatte. Äußerlich schwieg ich, meine Seele aber schrie unablässig zu Gott, dass er mir in seinem weltweiten Erbarmen doch einen einzigen Hoffnungsschimmer geben möchte, der mich erkennen ließe, dass er meiner armen Freundin gnädig sein und sie nicht auf ewig verwerfen wolle.

Da tönte auf einmal mitten in meine inbrünstig flehenden Gebete hinein Ilses matte Stimme:

„Ach, höre du, Grete! Du könntest mir doch dein Buch noch fertig vorlesen. Ich wollte bloß gern wissen, wie die Geschichte eigentlich schließt.“

O, wie froh war ich jetzt, dass ich das Buch bei ihr zurückgelassen hatte; denn hier musste man ja das Eisen schmieden, solange es warm war. Rasch stand ich auf und holte es mir herüber.

Mit heimlichem Glücksgefühl bettete ich meine liebe Ilse in eine bequeme, halb sitzende Lage und begann vorzulesen. Zuerst konnte ich es vor tiefer Bewegung kaum tun und musste meine Stimme zur Festigkeit zwingen. Dann ging es schon besser, denn die Hoffnung verlieh meiner Sprache die Schwingen. So las ich ihr einen ganzen Abschnitt vor. Daraufhin blickte ich vorsichtig forschend zu ihr hinüber.

„Lies nur weiter“, nickte sie mir freundlich zu. Hoch beglückt las ich noch ein paar Seiten. Dann wurde es mir selber bange, es könnte für ihre schwache Kraft zu viel werden. Doch sie bestand darauf noch mehr zu hören. Nach einem weiteren Kapitel hielt ich noch einmal inne und meinte besorgt: „Für heute ist es wohl genug für dich, liebe Ilse, es könnte dich sonst zu sehr angreifen. Ich will dir den Schluss morgen vorlesen.“ Da entgegnete sie mir mit großer Bestimmtheit:

„Nein, ich muss heute noch alles wissen!“

Auf eine solch ausgesprochene Bitte hin musste ich ihr doch willfahren. So las ich das Buch in einem Zuge bis zu seinem Ende. Als ich damit fertig war, sagte sie nur kaum hörbar: „Dankeschön!“ Dann wandte sie, ihrer Gewohnheit gemäß, den Kopf zur Wand.

Auf dieses Aufbruchszeichen hin stand ich leise auf und ging still nach Hause. Mein Herz durchzog ein unendliches Glücksgefühl. „O Herr, wie danke ich dir!“, konnte ich nur immer wieder in tiefer Bewegung stammeln.

Am nächsten Tag konnte ich meine kranke Freundin nicht besuchen, anderweitige Pflichten hielten mich davon zurück. Am übernächsten jedoch schickte ihre Mutter nach mir. Sie ließ mir sagen, wenn ich Ilse noch einmal sehen wollte, sollte ich schnell kommen, es ginge zu Ende.

Ohne Verzug eilte ich hin. Als ich eintrat, sah ich auf den ersten Blick, dass schon der Todesengel ihre Stirn gestreift hatte. Ihre Augen waren bereits halb erloschen. Aber sie kannte mich noch. Es flog ein leiser Freudenschimmer über ihr verfal lenes Antlitz. Still setzte ich mich an ihr Bett und kämpfte mit dem Abschiedsschmerz.

Eine Weile schwiegen wir beide. Auf einmal schob sie mir matt ihre abgezehrte Hand auf der Bettdecke hin, und mit schon halb gebrochener Stimme sagte sie langsam: „Ach, Gretchen, ich wollte mich nur bei dir bedanken, dass du mir dieses Buch vorgelesen hast. Es hat mich in der vergangenen Nacht zu Jesu geführt.“ Sie lächelte mich selig dabei an. Dann sank sie kraftlos in die Kissen zurück.

Hoch beglückt und tief erschüttert zugleich hauchte ich einen Abschiedskuss auf ihre bleiche Wange und sah sie noch einmal mit inniger Liebe an. Dann musste ich mich von ihr wenden, um nicht laut auszuweinen. Leise, wie ich gekommen, ging ich wieder fort von ihr für immer auf dieser Erde.

Am nächsten Tag ist meine Ilse selig heimgegangen. Geborgen in den Armen der ewigen Liebe ist sie sanft eingeschlafen. Trotz des tiefen Schmerzes um sie, war ich doch glücklich, dass ich noch den Schlüssel zu ihrem Herzen fand, der ihr ein Wegweiser zu Jesu sein durfte. Droben in der Herrlichkeit werden wir uns dann wiedersehen und uns vereint freuen in unaussprechlicher Wonne und Seligkeit.

Meine Begleiterin hatte ihre Erzählung geschlossen. In tiefster Bewegung hatte ich ihr zugehört. Kaum konnte ich Worte des Dankes finden. Ich drückte ihr nur warm die Hand und riss mich rasch los. Mein Herz war zu voll; ich musste allein sein, um es vor Gott auszuschütten. Rasch stieg ich in mein trauliches Giebelstübchen hinauf. Dort trat ich noch einmal auf den kleinen Balkon hinaus. Es war unterdes lichthelle Mondnacht geworden. Am blauen Himmelszelt zogen friedlich weiße Lämmerherden hin. In stummer Anbetung schaute ich nach oben. In meines Herzens Grunde aber klang es jubelnd wieder: „O Herr, wie danke ich dir für meinen schönsten Gnadenlohn, die Rettung einer jungen Mädchenseele auf mein schlichtes Buch: „Es sei denn ...“!

In diesem Augenblick schob sich mit wunderbarem Glanze ein heller, blinkender Stern zwischen den schneeweißen Wölkchen hervor. Er schaute so freundlich auf mich herab. Da war es mir gerade zumute, als ob mich durch denselben die junge Mädchenseele grüßen ließe, die durch mein schlichtes Buch den Weg ins Himmelreich fand.

Der lieben Freundin, die es ihr gebracht, bleibt warmer Dank im Herzen aufgehoben. Sie war in Gottes Hand das Werkzeug und meine treue Mitarbeiterin im Werben um diese unsterbliche Menschenseele. Aller Ruhm und alle Ehre dafür gebührt allein dem großen Herrn, dem wir sie demütig zu Füßen niederlegen.

Ich aber freue mich, einst bei Jesu im Licht die junge Mädchenseele, die dort meiner harrt, zu grüßen und mit ihr vereint den König in seiner Schöne zu sehen.

Noch viel größer jedoch würde die Freude sein, wenn sie nicht die einzige bliebe, sondern noch mehr junge Menschenkinder durch das schlichte Buch den Weg ins Himmelreich fänden. Und der Weg zum Paradies geht über Golgatha durch die beiden Stationen Bekehrung und Wiedergeburt hindurch. Darum möchte das Buch auf seinem zehnten Gang durch die dunkle Welt mit hellem Ton allen lieben Lesern desselben zurufen: „Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, sonst kann er das Reich Gottes nicht sehen“ (Joh. 3:3).