Aus des Löwen Rachen

Wie schon erwähnt, wurden wir das „fliegende Bataillon“ genannt und mussten sehr oft unseren Platz wechseln. So versuchte der Feind im Münstertal vorzudringen und es galt, ihn wieder zurückzuwerfen. Auch unser Bataillon wurde dazu herangezogen und nach kleineren Gefechten in der Nähe eines Städtchens zog sich der Feind zurück. Wir nahmen die Verfolgung auf und befanden uns immer in unmittelbarer Nähe der Franzosen. Als wir das bestimmte Ziel erreicht hatten, rasteten wir in einem Dorf, wo wir von den Bewohnern aufs freundlichste bewirtet wurden.

Um vor Überfall gesichert zu sein, sollten etwa 50 Mann von uns einen in der Nähe liegenden Berg vom Feind säubern und eine Vorpostenkette bilden. Ehe wir diesen schwierigen Befehl ausführten, befahl unser Führer, ein Vizefeldwebel: „Helm ab zum Gebet!“ Es war ein überaus feierlicher Augenblick, als die rauen Soldaten und auch viele von den Dorfbewohnern ihre Häupter entblößten und ein stilles Gebet zum Himmel schickten. Mit neuem Mut ging’s die Anhöhe hinan. Am Waldrand ruhten wir noch ein wenig; da aber die Dunkelheit hereinbrach, durften wir keine Zeit verlieren. Nun sollte eine freiwillige Spitze vorausgehen. Es meldete sich nur ein tapferer Schwabe und wir anderen folgten in etwa 20 Schritt Abstand hinter ihm. Ich war der zwölfte Mann in dieser Kette. Langsam, vorsichtig schlichen wir voran. Ich hatte mit meinem Gott ein stilles Gespräch über Daniel und die Löwen und sagte ihm, dass ich das Vertrauen habe, dass er mich heute Abend ebenso erretten kann, wie einst den Daniel von den wilden Tieren.

Bald merkten wir im hohen, feuchten Gras Spuren von Menschen. Tiefer ging’s in den Wald hinein, einen schmalen Pfad entlang, vorsichtig nach allen Seiten spähend. Plötzlich rief die helle Stimme eines Franzosen: „Halt! Wer da?“ Totenstille herrschte einen Augenblick – der Schreck lähmte uns die Glieder. Da krachte eine Salve der Franzosen und von allen Seiten drang Gewehrfeuer auf uns ein. Eilig stoben wir auseinander und suchten Deckung. Aber schon klangen Kommandorufe unseres Führers und mutig wurden Salven auf Salven in das Dunkel abgefeuert. Bald ertönten Aufschreie von den Getroffenen. Plötzlich bemerkte ich wenige Schritte neben mir einen Franzosen, aus dessen Gewehrmündung ein kleiner Feuerstrahl aufblitzte. Die Kugel sauste vorbei, sie durfte mich nicht treffen. Der Gott, der Daniel aus der Löwen Rachen rettete, beschützte mich auch in dieser Stunde. Nach kurzem Feuergefecht merkten wir, dass wir uns nicht mehr gegen die Übermacht behaupten konnten, und er Befehl zum langsamen Rückzug wurde gegeben. Unsere Verwundeten konnten wir mitnehmen, und vorsichtig gelangten wir wieder zu unserer Kompanie. Wieder war ich dem Tode entronnen und pries Gott für das kostbare Geschenk des Lebens.

Bald darauf folgte ein anderes Gefecht und die Erstürmung eines Dorfes. Da gab es viel Tote und Verwundete. Wir begruben Freund und Feind in ein Massengrab. Still lagen sie nun nebeneinander, die im Leben glaubten sich hassen zu müssen. Der Tod glich alle Unterschiede aus und die unsterblichen Seelen erwachten in der Ewigkeit. Unser Regimentskommandeur hielt eine ergreifende Rede und sagte uns, dass wir jede Hoffnung aufgeben müssten, je unsere Heimat und unsere Lieben wiederzusehen. Hartes und Allerschlimmstes stände uns bevor, und der Krieg hätte noch lange kein Ende.

Entmutigt und aller Hoffnung beraubt, kehrten wir wieder in unser Quartier zurück. Woher nun noch die Kraft nehmen weiterzukämpfen, zu leiden und zu entbehren? Wäre der Tod nicht ein Erlöser? Hatten es die Kameraden, die wir in fremder Erde verscharrten, nicht viel besser? Fast wollte auch mich die Mutlosigkeit überwältigen und der Seelenfeind hätte die Gelegenheit benutzt, mein Vertrauen zu Gott zu untergraben. Da durfte ich im Gebet den Gott „allen Trostes“ erfahren, der uns tröstet in aller unserer Trübsal, und Friede und neue Hoffnung kehrten in mein Inneres zurück. Zu derselben Zeit bekam ich die ersten Briefe von meinen Lieben. Freudentränen stürzten aus meinen Augen – ausgelöscht waren alle Schrecknisse des Krieges. Ich fühlte mich zurückversetzt in mein vertrautes Heim, sah meine Frau und meine Kinder. Wie glücklich war ich in dieser Stunde! Jedes Wort, jeder Buchstabe der Briefe war mir wie ein Heiligtum. Immer und immer wieder musste ich die Worte, die so lieb zu mir sprachen, lesen. Ich dankte Gott für diese Erquickung zur rechten Zeit und schaute getrost in die dunkle, ungewisse Zukunft.